Rezensiert von Julian J. Rossig
Nach dem 2008 veröffentlichten Werk Global, lokal, digital: Fotojournalismus heute, das ohne Übertreibung als Meilenstein der Journalismusforschung gelten darf, legt Elke Grittmann nun gemeinsam mit Felix Koltermann einen Folgeband vor: Fotojournalismus im Umbruch – hybrid, multimedial, prekär vereint 18 Beiträge aus Wissenschaft und Praxis zu einem facettenreichen und aktuellen Blick auf den Berufsstand der FotojournalistInnen. In vier Kapiteln beleuchten die 14 AutorInnen den digitalen Bildermarkt, Fotojournalismus als Profession, aktuelle bildredaktionelle Praktiken sowie den Wandel fotojournalistischer Darstellungsformen.
In dieser außergewöhnlichen thematischen Breite wird der Anspruch erkennbar, das nächste Standardwerk zu schaffen. Diesen Anspruch löst das Werk auf immerhin 451 Seiten eindrucksvoll ein: Neben eher naheliegenden Themenfeldern wie den rechtlichen Rahmenbedingungen fotojournalistischer Arbeit (Dorothe Lanc) werden lobenswerterweise auch Randbereiche ausgeleuchtet. So schildert Winfried Gerling plastisch und konkret, welche technischen Möglichkeiten die moderne Foto-Forensik nutzt, während Michaela Zöhrer beispielhaft die Zusammenarbeit mit NGOs als zusätzlichem Standbein beschreibt. Damit ist der Band ein für Studierende wie ForscherInnen schlicht unverzichtbarer Wissensschatz.
Das Lesevergnügen kommt dabei nicht zu kurz: Eine regelrechte Sternstunde ist Felix Koltermanns Interview mit dem Fotojournalisten Marcelo Hernandez, der unverblümt und authentisch-offen aus seiner Tätigkeit für das Hamburger Abendblatt berichtet. Erfrischenderweise nutzt der Interviewer die Möglichkeiten des Erzählformats geschickt aus, um nicht nur Fakten zu sammeln, sondern die persönliche Haltung des Hamburger Kollegen auszuleuchten. Das Interview-Format kommt öfter zum Einsatz, teilweise in Form von Doppelinterviews, die jedoch allzu harmonisch bleiben und so kaum zum Streitgespräch taugen.
In den weiteren Beiträgen geht es deutlich akademischer zu, was neben den unübersehbaren Vorteilen zugleich eine – vielleicht zwangsläufige – Schwäche des Bands illustriert: Der deskriptive Ansatz zeigt zwar den Status Quo auf, oft in deutlicher Abgrenzung zu einem nicht näher definierten »früher«; auf der Strecke bleibt aber eine zukunftsorientierte bzw. womöglich gar handlungsleitende Analyse der gewonnenen Erkenntnisse. Lars Bauernschmitts Beitrag zur Entwicklung des Agenturmarkts zeigt das Dilemma wissenschaftlicher Publikationen besonders deutlich: Seine Erhebung untermauert das »Bauchgefühl« einer zunehmenden Konsolidierung fotojournalistischer Intermediäre mit verlässlichem Zahlenmaterial, bleibt am Ende aber ohne Schlussfolgerung.
Das ist – bei aller Euphorie – bedauerlich, weil dadurch der Blick auf mögliche Chancen und Opportunitäten unerschlossen bleibt. So weisen Robin Meyer und Thomas Horky zwar kurz darauf hin, dass etablierte Sportfotografen heute mit »neuen« Techniken wie Drohnen und GoPros konfrontiert seien. Es wird aber nicht weiter ausgeleuchtet, wie ein solches Geschäftsmodell funktioniert und wie (angehende) PraktikerInnen sich in einem solchen Umfeld profilieren können. Stattdessen werden Zugangsbeschränkungen, wachsender Zeitdruck und Sportler-Selfies problematisiert, ohne jedoch auch hierfür Lösungen zu eruieren.
Hinzu kommt: Bei mehr als einem Beitrag entsteht der Eindruck, dass die AutorIn ausgehend vom »Idealbild« eines festangestellten Redaktionsfotografen der 1970er- und 1980er-Jahre aus argumentiert. Exemplarisch scheint dies in Felix Koltermanns Analysemodell durch, das zwar intellektuell überzeugend dargestellt wird, am Ende aber weiterhin in den Strukturen einer (überregionalen) Tageszeitungsredaktion funktioniert und sich vieler Referenzen an die gute alte Offline-Welt bedient – die Newsroom-Realität wird in einem Nebensatz am Kapitelende förmlich abgehandelt.
Das ist umso überraschender, als unstrittig scheint, dass dieses Idealbild nicht erst seit der Jahrtausendwende keineswegs repräsentativ für den Berufsstand der FotojournalistInnen ist. Es lässt sich sogar diskutieren, ob die im Vorwort postulierte Hybridität und Konvergenz tatsächlich eine Neuigkeit im engeren Sinne ist: In mancher Lokalredaktion waren fotojournalistische Aufgaben schon immer eine Querschnittsaufgabe. Insofern mutet auch die über zahlreiche Beiträge umfangreich geführte Debatte zur Stockfotografie wichtig, aber einen Hauch akademisch an: Das zeitlose Bild ist nicht erst eine Erfindung des Internet-Zeitalters.
So ist dieser Band vor allem auch eine Steilvorlage für weitere Forschungsvorhaben. Erstrebenswert scheinen beispielsweise Einblicke aus erster Hand in den Arbeitsalltag der »Generation Stockfoto« und mit welchem Blick sie in die Zukunft ihrer Profession blickt. Evelyn Runge leuchtet in ihrem Beitrag zwar die Rahmenbedingungen von iStock & Co. aus, führt mit »Stockproduzent« gar eine neue Terminologie in klarer Abgrenzung zum »Fotojournalisten« ein. Der Blick auf konkrete Erlösmodelle für jene Produzenten kommt aber zu kurz, ebenso wie eine Würdigung künftiger Entwicklungen – etwa die Rolle von Artificial Intelligence in der Verschlagwortung.
Zusammenfassend gebührt den AutorInnen großer Dank für die Anregung fruchtvoller Debatten. In diesem Geiste sollte das Werk vor allem als Einladung für vertiefende Forschung verstanden werden – nicht als Antwort auf alle Fragen.
Über das Buch
Elke Grittmann, Felix Koltermann (Hrsg.) (2022): Fotojournalismus im Umbruch – hybrid, multimedial, prekär. Köln: Herbert von Halem, 456 Seiten, 35,- Euro.
Über den Rezensenten
Julian J. Rossig, Gründer des Redaktionsbüros »knowledge incorporated«, fotografierte u. a. für dpa und Spiegel-Online. Sein Band Fotojournalismus ist im Herbert von Halem Verlag erschienen (3. Auflage 2014). Der Autor promovierte an der International School of Management, Paris.
Diese Rezension erschien zuerst in rezensionen:kommunikation:medien, 14. Juli 2022, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/23346