Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Entgegen schon vielfach behaupteter Gewissheiten und vorgeblich stringenter Zeitdiagnosen über die digitale Gesellschaft (oder ihren diversen Epitheta) geht dieses techniksoziologische »Studienbuch« des Stuttgarter Sozialwissenschaftlers von offenen Prozessen der digitalen Transformation, von vielfältigen Veränderungen mit nur vorläufig »erkennbaren Dynamiken und Ambivalenzen« aus, die in den »langfristigen Verknüpfungszusammenhang von Technik und Gesellschaft« eingbettet sind. Dessen Ausgang, Tragweite, Struktur und Konfiguration sind noch nicht, wohl niemals abgeschlossen und eindeutig, geschweige denn, dass sie in eine »abgeschlossene Theorie der Digitalisierung« gefasst werden können. Vielmehr dürfte es immer wieder auch unerwartete Rekonfigurationen, Umwege, Sackgassen und plötzliche Innovationen geben wie seither in der Technikentwicklung.
Daher behandelt der Autor bevorzugt die folgenden drei Fragen: 1. »Wie wirken technische und soziale Prozesse auf den adressierten Feldern des Wandels ineinander?« 2. »Was ist das tatsächlich Neue an den jeweiligen soziotechnischen Veränderungsdynamiken?« 3. »Welche gesellschaftlichen Folgen und Konsequenzen gehen damit einher?« (S. 11f.), und er hofft mit ihrer Beantwortung, einen »orientierenden Korridor« in die »techniksoziologisch informierte Digitalisierungsforschung« zu eröffnen (S. 13).
Dementsprechend spannt das zweite Kapital einen breiten Bogen von der Entstehungsgeschichte und von den Definitionen der Soziologie im Allgemeinen als wissenschaftliche Konsequenz der Industrialisierung bis zur Techniksoziologie mit ihren Theorien und Befunden der Koevolution von Gesellschaft und Technik im Besonderen. Im dritten Kapitel skizziert er sehr solide und strukturiert die Entwicklungsdynamik der »Digitalisierung«, wie sie seit etwa 2013 heißt. Davor war von Kybernetik und Informatisierung, der Informations- und Wissensgesellschaft, der Computerisierung und Mediatisierung, vom Internet und Web 2.0 die Rede. Aber unter technikgeschichtlichen Vorzeichen lassen sich auch erste Verwaltungsregister und Spielarten quantitativer Vermessung, gewiss auch die Erfindung der Schrift und ihre Verbreitung in der Antike, die Etablierung mechanischer Uhren, Rechenmaschinen von Blaise Pascal und Gottfried W. Leibniz im 17. Jahrhundert beispielhaft als kognitive Voraussetzungen der inkrementellen Umwälzungen und Rationalisierungen werten, die zur heute apostrophierten Digitalisierung führen. All diese Dimensionen und Aspekte kompakt zusammenzuführen und einzuordnen, belegt den hervorragenden Wert dieses techniksoziologischen Zugangs. Er mündet in die nächsten Kapitel ein: zum einen in die »Rekonfiguration gesellschaftlicher Koordinationsmuster«, zum anderen in die Analyse des »Wandels gesellschaftlicher Kommunikations- und Öffentlichkeitsstrukturen« unter dem Einfluss digitaler Transformation (S. 84). Dabei sind sämtliche Adaptions- und Aneignungsdynamiken vom »Wechselspiel von Ermöglichung und Kanalisierung« (S. 145) bzw. Kontrolle geprägt, eine einseitige technisch bestimmte Determinierung oder ökonomische Dominanz wird den vielfältigen Ambivalenzen und Kontingenzen realer Entwicklungen nicht gerecht.
An folgenden zentralen gesellschaftlichen Feldern zeigt das IV. Kapitel die durch die Digitalisierung »tiefgreifenden Um- und Neuordnungen« (S. 87f.) auf: Im Markt reduzieren sich Transaktionskosten, sinken Eintrittsbarrieren, werden Vertriebsmöglichkeiten niederschwellig und ermöglichen im Grundsatz Dezentralisierung. Diese Optionen nutzen aber auch riesige, internationale und marktbeherrschende Plattformen, die Handel und Konsum kanalisieren. Auf dem Arbeitsmarkt lassen sich Beschäftigungsverhältnisse flexibilisieren, die die Autonomie des Einzelnen erhöhen (können), aber auch den qualifikatorischen Anspruch an und die psychische Belastung für sie/ihn intensivieren; zugleich ermöglichen die digitalen Techniken unbemerkt strengere Überwachung, Standardisierung und Kontrolle von Arbeitsprozessen und lassen den Wettbewerbsdrucks unter den Beschäftigten steigen. Organisationen können durch algorithmisierte Modellierung von Abläufen dezentraler, ortsungebundener und vor allem enthierarchisiert werden, aber es können unbemerkt Entscheidungsspielräume eingeschränkt und Entscheidungsroutinen technisch reformalisiert werden.
In den Außenverhältnissen von Unternehmen und Organisationen lassen sich erweiterte und flexiblere Kooperations- und Austauschstrukturen denken, die sogar zu projektorientierten Kollaborationen bei Innovationen und Marktentwicklung führen. Sobald sie allerdings für den Markt und die Verwertung interessant werden, verlieren sie oft ihren offenen Charakter und ihre Nischenspontaneität. Schließlich verändert die fortschreitende digitale Transformation die Bedingungen für die Genese und Stabilisation kollektiver Formationen, wie sich an vielen gegenwärtigen Gruppierungen wie Occupy Wallstreet, Metoo, Fridays for Future etc. exemplifizieren lässt. Mittels der Social-Media-Plattformen lassen sich schnell Gleichgesinnte mobilisieren, organisieren und steuern, allerdings lassen sich ihre Aktivitäten ebenso leicht beobachten, kanalisieren, kontrollieren und sogar beeinflussen. So reproduzieren sich auch an der gesamten Digitalisierung grundsätzlich soziologische Erkenntnisse über genuin soziale Prozesse, Organisationen und Institutionen, welche durch die neuen informationstechnischen Strukturen und Potentiale intensiviert worden sind.
Wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Sektor wandelt und revolutioniert sich die gesellschaftliche und individuelle Kommunikation (V. Kapitel), da sie zudem permanenter Spiegel der realen Umwälzungen ist und diese gewissermaßen in einer zweiten, der Medienwelt, reflexiv (re)konstruiert. Gleichwohl lässt sich bislang keine »radikale Erosion aller langfristig stabilisierten Prozesszusammenhänge« (S. 198) konstatieren, wie es vielfach in der überbordenden sozialwissenschaftlichen Beobachtung befürchtet wird. Vielmehr sind tiefgreifende Transformationsprozesse im Gange, die durch das vielschichtige »Ineinanderwirken eingespielter und neuer Medienformen« (S. 196) geprägt sind, und die Schrape mit vielen empirischen Daten, aber auch im Rekurs auf explikative theoretische Ansätze breit belegt.
Im einzelnen führt er »eine zunehmende Plattformisierung der Medienstrukturen, eine Individualisierung der Medienrepertoires, eine Pluralisierung der Öffentlichkeitsarenen, ein verändertes Verhältnis sozialer und technischer Strukturierungsleistungen in der Aushandlung öffentlicher Sichtbarkeit sowie eine Dynamisierung gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion« (S. 149) an. Damit haben sich Möglichkeitsräume für persönliche Interaktionen bzw. Kommunikationen sowie für den öffentlichen Austausch via Social Media enorm erweitert und vervielfältigt. Auf der anderen Seite »erhöht sich mit der Heterogenität der Arena öffentlicher Kommunikation« gleichermaßen der Bedarf für erwartungssichere Verfahren der Komplexitätsreduktion auf gesellschaftsumspannender Ebene, die nach wie vor der professionelle Journalismus, wie immer er von digitaler Informationstechnik unterstützt, begleitet und substituiert wird, am besten und allgemeinsten befriedigt. Wie sich diese Komplementär- und Konkurrenzverhältnisse auf Dauer arrangieren – vermutlich territorial, sektoral und kulturell unterschiedlich – werden künftige, noch offene Entwicklungen weisen und muss empirisch eruiert werden (vgl. S. 195).
So vermittelt dieses Studienbuch kompakt, transparent und gründlich ohne Frage ein »Gespür für den Gesamtzusammenhang von Technik und Gesellschaft«, wie es im Resümee (S. 202) heißt, und rekonstruiert für die Digitalisierung nochmals anhand der bereits erwähnten vier »Ambivalenzen […] bislang erkennbare Veränderungsprozesse auf den Feldern der gesellschaftlichen Koordination und Kommunikation« (S. 202), deren konkretes Zustandekommen, Strukturgefüge und Gestaltungsmuster jeweils von »facettenreichen sozialen Aneignungs- und Aushandlungsprozessen« abhängig sind, die »wiederum in vielfältige gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingelassen sind« (S. 206).
Und Schrape ist so redlich, auch auf thematische Lücken hinzuweisen, die aus pragmatischen Gründen und um des Umfanges willen ausgeblendet bleiben mussten, aber ohne Frage wichtig sind und dazugehören: nämlich das Verhältnis von Digitalisierung und Nachhaltigkeit (über deren wechselseitige Beförderung bzw. Behinderung ebenso viele kontroverse Thesen kursieren), sowie das Verhältnis von Digitalisierung und sozialer Ungleichheit, zumal in globalen Dimensionen, über das man viel weniger hört und liest. Mit solchen unvermeidlichen Lücken hadert der Autor noch einmal in seiner »persönlichen Schlussbemerkung«.
Dabei ist ihm eine Einführung in und ein Überblick über die Thematik der Digitalisierung gelungen, wie sie in dieser argumentativen Stringenz und strukturierten Konsequenz, theoretischen Komplexität und Pluralität, thematischen Breite und Vielfalt und vor allem im gründlichen Verständnis für historische Prozesse und gesellschaftliche Entwicklungen in der Tat (zumindest deutschsprachig) noch nicht vorgelegen hat. Den Charakter des Studienbuches unterstreichen ferner inhaltliche Marginalien an jedem Abschnitt sowie ein Sach- und ein Personenindex, die heute auch selten geworden sind.
Über das Buch
Jan-Felix Schrape (2021): Digitale Transformation. Bielefeld: transcript, 264 Seiten, 22,- Euro.
Über den Rezensenten
Dr. rer. soc. Hans-Dieter Kübler (*1947) war Professor für Medien-, Kultur- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kulturtheorie, empirische und historische Medienforschung sowie Medienpädagogik. Seit 2012 ist er Mitheraus-geber der Halbjahreszeitschrift Medien & Altern (München).
Diese Rezension erschien zuerst in rezensionen:kommunikation:medien, 4. Juli 2022, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/23329