Auf dem Weg zur Fotojournalistik Plädoyer für eine angewandte Fotojournalismusforschung

von Felix Koltermann

Abstract: Obwohl fotojournalistische Bilder seit langem einen elementaren Teil publizistischer Medien darstellen, wird die Erforschung von Akteur_innen und Strukturen des Fotojournalismus in der Kommunikationswissenschaft immer noch vernachlässigt. Um dem zu begegnen, ist die Etablierung einer angewandten Fotojournalismusforschung notwendig.

In zeitgenössischen journalistischen Medien aus dem Print- und dem Onlinebereich ebenso wie auf den entsprechenden Kanälen in den sozialen Netzwerken sind fotografische Bilder allgegenwärtig. Die Bilder stammen aus unterschiedlichen Kontexten und sind sowohl der privaten Amateurfotografie, der Stockfotografie, der Werbung, der Kunst, aber eben auch dem Fotojournalismus zuzuordnen. Wenn man den Blick auf journalistische Medien und deren tagesaktuelle Berichterstattung beschränkt, finden sich dort jedoch – trotz eines Hypes um Amateurbilder und Citizen Photography – immer noch mehrheitlich Fotografien aus fotojournalistischer Produktion. Man kann also konstatieren, dass der professionelle Fotojournalismus auch im 21. Jahrhundert einen wesentlichen Einfluss auf die tagesaktuelle Berichterstattung hat.

Die stetig gewachsene Bedeutung von Bildern in der öffentlichen Kommunikation hat auch einen immer größer werdenden Korpus an wissenschaftlichen Arbeiten über fotografische Bilder nach sich gezogen. Vor allem seit der unter den Begriffen Iconic Turn oder Pictorial Turn firmierenden wissenschaftlichen Wende zum Bild (Mitchell 1994; Maar 2004), sind national wie international unzählige Forschungsarbeiten entstanden. Sie beschäftigen sich mit Fragen der fotografischen Repräsentation einzelner Akteur_innen und Gruppierungen sowie deren Visualisierungsstrategien, der Entstehung von Bildikonen, dem Phänomen der Citizen Photography, aber auch medienontologischen Fragestellungen rund um die Begriffe wie Indexikalität/Ikonizität, Authentizität oder Bildhandeln. Ausgangspunkte der Forschung sind in der Regel das publizierte Bild oder einzelne fotografische Werkkomplexe und damit die fotografische Repräsentation.

Der Fotojournalismus in der Forschung

In Deutschland hat sich seit der Jahrtausendwende relativ erfolgreich das interdisziplinäre Projekt einer allgemeinen Bildwissenschaft etabliert (Sachs-Hombach 2003). Der Fotografie und dem Dokumentarischen gewidmete Graduiertenkollegs wie Das fotografische Dispositiv an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig oder Das Dokumentarische. Exzess und Entzug an der Ruhr-Universität Bochum stehen in dieser Tradition.[1] Auch unter dem akademischen Nachwuchs sind interdisziplinäre Formate und Herangehensweisen en vogue, wie es das Anfang 2018 gegründete Netzwerk Foto: Diskurs zeigt.[2] Und der Studiengang Fotojournalismus und dokumentarische Fotografie an der Hochschule Hannover schaffte 2017 die Diskursplattform Image Matters mit dem Ziel, »Fragestellungen aus der fotografischen Bildpraxis und Diskurse der Bild- und Fototheorie sowie der Visual und Cultural Studies in einen Dialog« zu bringen, »der für beide Seiten wesentliche neue Perspektiven eröffnet«.[3]

Die Erforschung von Akteur_innen und Strukturen des Fotojournalismus wird dagegen in der deutschen Forschungslandschaft immer noch stiefmütterlich behandelt, sowohl in der Bildwissenschaft als auch in der Kommunikationswissenschaft. Selbst in den großen Studien zum Journalismus in Deutschland wurden Fotojournalist_innen nicht als eigene Berufsgruppe erfasst (Weischenberg et al. 1993; Weischenberg et al. 2006). Die einzig relevante Studie, die Bildjournalisten-Enquete, stammt noch aus vordigitalen Zeiten (Ludwig/Werner 1986).

Auch die Visuelle Kommunikationsforschung, die sich vor allem rund um die Fachgruppe Visuelle Kommunikation der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) etabliert hat, konnte nur wenig Abhilfe schaffen. Auch hier steht in der Regel das fotografische Bild im Fokus. Aktuelle Erkenntnisse über das Berufsfeld des Fotojournalismus stammen bis heute also – von wenigen Ausnahmen (Grittmann/Amman 2008; Koltermann 2017) einmal abgesehen – vor allem aus anderen Disziplinen wie der Visual History (Vowinckel 2016) sowie Studien von Berufsorganisationen (Thiemann 2009) oder aus Praxishandbüchern (Bauernschmitt/Ebert 2015; Rossig 2014).[4]

Die disziplinäre Verortung fotojournalistischer Ausbildung

Um zu verstehen, wie die Fotojournalismusforschung in Deutschland aufgestellt ist, erscheint ein Blick auf die disziplinäre Verortung der fotojournalistischen bzw. fotografischen Ausbildung hilfreich. Seit der Nachkriegszeit ist diese traditionell vor allem an Fachhochschulen innerhalb der Fachrichtung Design bzw. Kommunikationsdesign angesiedelt und bezogen auf eine künstlerische Ausrichtung an den Kunsthochschulen verortet (Gripp/Brudna 1993). In den deutschen Journalismus-Studiengängen hingegen spielt der Fotojournalismus so gut wie keine Rolle. Während Radio- und Fernsehjournalismus als eigenständige Disziplinen gelehrt werden, bleibt der Fotojournalismus außen vor.

Dass dies eine deutsche Eigenart ist, zeigt der Blick in andere Länder. So sind etwa in den USA oder Dänemark Bachelor-Studiengänge für Fotojournalismus ganz selbstverständlich an Journalismus-Fakultäten angesiedelt.[5] Natürlich sagt dies nichts über das Vorhandensein einer angewandten Fotojournalismusforschung aus, gleichwohl aber etwas über das Fach und seine Verortung. Der Blick in den angelsächsischen Raum ist aber auch aus einer Forschungsperspektive interessant, finden sich dort doch vergleichsweise häufig Artikel zum Themengebiet in akademischen Journals wie Journalism, Journalism Practice oder Newspaper Research Journal.[6]

Der Status als Fotograf_in und Künstler_in, der Fotojournalist_innen in Deutschland bis heute immer wieder zugeschrieben wird und darüber hinaus auch oft Teil der Selbstdefinition ist, geht unter anderem auf die geschilderte Ausbildungssituation sowie das deutsche Fächerverständnis zurück. Aber auch der Fakt, dass sich der Fotojournalismus fast ausschließlich über die Ästhetik des Bildes und nicht über seine journalistische Qualität legimitieren muss, ist mit der disziplinären Verortung zu begründen. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass kunst- und bildwissenschaftliche Fragestellungen so prägend bei der Beschäftigung mit dem Fotojournalismus und seinen Bildwelten sind. Viel zu lange herrschte der Versuch vor, die Frage, ob wir professionelle Bildproduzent_innen brauchen, über das Bild zu klären. Stattdessen sollte dies über die gesellschaftliche Funktion des Fotojournalismus erfolgen, der mit fotografischen Mitteln zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft beiträgt und Themen zur öffentlichen Kommunikation bereitstellt.

Plädoyer für eine angewandte Fotojournalismusforschung

Im Titel eines der wohl bekanntesten Essays zur Kritik der Dokumentarfotografie stellt die US-amerikanische Kunsthistorikerin Abigail Solomon-Godeau (2003) die Frage Wer spricht so?. Diese sollte um die Fragen ergänzt werden, wer, wann, wo, auf welche Art und Weise und mit welcher Legitimation von wem wie Bilder anfertigt, wie und von wem diese distribuiert werden und wer, warum und in welchem Kontext diese Bilder publiziert. Im Grunde genommen geht es damit um den Themenkomplex des bildbezogenen (foto-)journalistischen Handelns. Ziel sollte sein, die in diesem Gefüge verborgenen Machtasymmetrien sowie die Privilegien einzelner Akteur_innen zu erkennen. Notwendig ist, die im System Journalismus herrschenden Akteurskonfigurationen herauszuarbeiten, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen Fotojournalist_innen sowie andere mit dem Bild befasste Akteur_innen wie etwa die Bildredakteur_innen handeln. Dafür ist ein radikaler Wandel in der Betrachtung des Fotojournalismus und eine Abkehr von der Bildfixiertheit der praxisnahen sowie wissenschaftlichen Diskurse über die journalistische Fotografie notwendig. Die – meist kunstwissenschaftlich inspirierte und orientierte Fototheorie – ist wichtig, aber sie muss durch andere Perspektiven angereichert werden, um die Komplexität zeitgenössischer fotojournalistischer Praktiken besser verstehen zu können.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, muss eine angewandte Fotojournalismusforschung entwickelt werden, die Produktionsbedingungen und -routinen in den Blick nimmt und ihre Ergebnisse zurück in die Praxis trägt. Einer kommunikationswissenschaftlichen Theorieperspektive folgend, sollte sich diese dem Fotojournalismus als einem Subsystem des Journalismus und Teil des Systems der Entstehung massenmedialer Aussagen widmen und bildbezogene Organisationen, Programme und Rollen analysieren. Für die Umsetzung erscheint kaum ein Ort besser geeignet als Hochschulen bzw. Fachhochschulen, die selbst Fotojournalist_innen ausbilden – wie in Deutschland etwa die HS Hannover oder die FH Dortmund. Aufgrund ihres hervorragenden Zugangs zu den Verlagen und Redaktionen, könnten sie als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis fungieren. Leider führt die Forschung an diesen Institutionen historisch und strukturell bedingt eher ein Nischendasein. Neben dem fehlenden Mittelbau trägt dazu sicherlich auch die hohe Lehrbelastung von Dozierenden bei. Auch die Universitäten füllen diese Lücke nicht, da man dort nur selten die fotojournalistische Praxis in den Blick nimmt.

Von der Journalistik zur Fotojournalistik

Als Vorbild für die Entwicklung einer angewandten Fotojournalismusforschung könnten die Erfahrungen mit dem Fachgebiet Journalistik dienen, das sich seit den 1960er-Jahren in Deutschland etabliert hat. Weniger eignen sich dagegen die Erfahrungen mit der Entwicklung des Projektes einer interdisziplinären – allgemeinen wie speziellen – Bildwissenschaft. Ziel der Etablierung des Fachgebiets Journalistik war sowohl eine Akademisierung der journalistischen Ausbildung als auch eine angewandte akademische Beschäftigung mit den Akteur_innen, Strukturen und Leistungen des Journalismus. Bis heute steht die wissenschaftliche Forschung an deutschen Journalistik-Instituten wie Dortmund oder Leipzig in dieser Tradition. Theoretische Anleihen für eine angewandte Fotojournalismusforschung lassen sich unter anderem in der organisationsbezogenen Journalismusforschung, in der Ausdifferenzierung von Fotojournalismus als journalistischem Subsystem (Grittmann 2007) sowie in der Visuellen Kommunikationsforschung im Hinblick auf eine Produktionsanalyse (Müller/Geise 2015) und den Prozess der Bildkommunikation (Bock et al. 2010) finden. Für eine breitere theoretische Fundierung wäre es darüber hinaus sinnvoll, Impulse aus der aktuellen Debatte um neue theoretische Ansätze in der Kommunikationswissenschaft aufzugreifen.

Es gibt zahlreiche konkrete Fragestellungen, die bei einer zu etablierenden Fotojournalistik als einer angewandten Fotojournalismusforschung zu erforschen sind – sowohl in Bezug auf die Produktion, die Distribution und die Publikation. Mögliche Themenstellungen reichen von der Untersuchung der Ausbildungssituation zwischen Volontariat und Hochschule in Deutschland im Hinblick auf die verwendeten Methoden und Curricula, über die Beschäftigung mit Rollenbildern und Selbstdefinitionen freier und angestellter Fotojournalist_innen sowie die Aufarbeitung der fotojournalistischen Praxis im Lokaljournalismus bis hin zur Klärung der Bedeutung von Social Media für die Vermarktung und Karriereentwicklung von Fotojournalist_innen. Die dabei zu Tage geförderten Ergebnisse wären ideal für einen Wissenschafts-Praxis-Transfer, da sie sowohl für ein wissenschaftliches Verständnis des Fotojournalismus und seiner Produkte interessant sind als auch eine wichtige Ressource für das Berufsfeld und dessen Selbstreflektion darstellen.

Dieser Text geht unter anderem auf einen Vortrag auf der Tagung »Images in Conflict« im Jahr 2017 an der Hochschule Hannover zurück.

Über den Autor

Dr. Felix Koltermann (*1979) arbeitet als Postdoc am Studiengang »Fotojournalismus und Dokumentarfotografie« der Hochschule Hannover in einem Forschungsprojekt über bildredaktionelle Praktiken im digitalen Zeitungsjournalismus. Von 2016 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. Darüber hinaus ist er freiberuflich als Journalist und Trainer in der Erwachsenenbildung tätig. Nach einem Studium in Foto-Design an der FH Dortmund hat er am Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Erfurt über den internationalen Fotojournalismus in Israel/Palästina promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind der internationale Fotojournalismus, bildredaktionelles Handeln, visuelle Medienkompetenz sowie das Fotobuch. Kontakt: felix.koltermann@hs-hannover.de

Literatur

Bauernschmitt, Lars; Ebert, Michael (2015): Handbuch des Fotojournalismus. Heidelberg, dpunkt

Bock, Annemarie; Isermann, Holger, et al. (2010): Herausforderungen der quantitativen (visuellen) Inhaltsanalyse von Online-Inhalten. In: Welker, Martin; Wünsch, Carsten (Hrsg.): Die Online-Inhaltsanalyse. Köln [Herbert von Halem], S. 224-339

Gripp, Anna; Brudna, Denis (1993): Fotografiestudium in Deutschland. Hamburg, Photonews Verlag

Grittmann, Elke (2007): Das politische Bild. Fotojournalismus und Pressefotografie in Theorie und Empirie. Köln, Herbert von Halem

Grittmann, Elke; Neverla, Irene; Amman, Ilona (Hrsg.) (2008): Global, lokal, digital: Fotojournalismus heute. Köln, Herbert von Halem

Koltermann, Felix (2017): Fotoreporter im Konflikt. Der internationale Fotojournalismus in Israel/Palästina. Bielefeld, Transcript

Ludwig, Martin; Werner, Wolfgang (1986): Bildjournalisten-Enquete. Baden-Baden: Verlag Presse-Informations-Agentur

Maar, Christa; Burda, Hubert (Hrsg.) (2004): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Köln, DuMont

Mitchell, J.W.T. (1994): Picture Theory. Chicago, The University of Chicago Press.

Müller, Marion; Geise, Stefanie (2015): Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden. Konstanz, UVK

Rossig, Julian (2014): Fotojournalismus. Konstanz, UVK

Sachs-Hombach, Klaus (2003): Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln, Herbert von Halem

Solomon-Godeau, Abigail: Wer spricht so?, in: Wolf, Herta (Hrsg.) (2003): Diskurse der Fotografie. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 53-74

Vowinckel, Annette (2016): Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert. Göttingen, Wallstein

Thiemann, Julia (2009). Die Situation freiberuflicher Fotojournalisten und Fotografen in Deutschland. Hamburg, FREELENS e.V.

Weischenberg, Siegfried; Löffelholz, Martin; Scholl, Armin (1993): Journalismus in Deutschland. In: Media Perspektiven, 1, 1993, S. 21-33

Weischenberg, Siegfried; Malik, Maja; Scholl, Armin (Hrsg.) (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz, UVK

Fussnoten

4 Da in diesem Text der Fokus auf der deutschen Forschungslandschaft liegt, werden Forschungsarbeiten aus dem internationalen Kontext hier nicht berücksichtigt.

5 Siehe dazu das Angebot der Danish School for Media and Journalism http://www.dmjx.dk/international/studies-english/photojournalism-1 oder der School of Journalism an der University of Missouri https://journalism.missouri.edu/overlay-content/photojournalism/

6 Für deutsche akademische Journals wie Publizistik, M&K oder das Global Media Journal lässt sich ähnliches nicht sagen. Umso mehr bleibt dies ein Desiderat für das neue Journal Journalistik.


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Zitationsvorschlag

Felix Koltermann: Auf dem Weg zur Fotojournalistik. Plädoyer für eine angewandte Fotojournalismusforschung. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3, 2019, 2. Jg., S. 211-217. DOI: 10.1453/2569-152X-32019-10155-de

ISSN

2569-152X

DOI

https://doi.org/10.1453/2569-152X-32019-10155-de

Erste Online-Veröffentlichung

Dezember 2019