Editorial Autonomieprobleme

Die Unabhängigkeit des Journalismus zieht sich als Thema in dieser Ausgabe durch etliche Beiträge. Genauer gesagt, die Frage, ob sich Journalist*innen verlässlich auf ihre berufliche Aufgabe konzentrieren (können), Öffentlichkeit herzustellen, also ein Optimum an zutreffenden und für alle wichtigen Informationen allgemein zugänglich zu machen. Daran schließt sich die Frage an, wie diese professionelle Autonomie vor Übergriffen aus Politik und Parteien, aber auch aus Unternehmen, Kirchen, Sportverbänden usw. geschützt werden kann.

Wie verhalten sich journalistische Medien zu Social-Media-Auftritten von Politiker*innen? Wehrt der Journalismus hier politische Einflüsse erfolgreich ab, oder gelingt der Politik das Agenda Setting? Anna Spatzenegger hat große Mengen von Facebook-Posts und Tweets deutscher, österreichischer und Schweizer Politiker*innen sowie entsprechende Artikel aus Zeitungen der drei Länder untersucht. Ein Ergebnis: Unabhängig von kulturellen Unterschieden bevorzugen Journalist*innen offenbar solche Social-Media-Posts, die die meisten Interaktionen nach sich ziehen. Das warnende Fazit der Autorin: Journalist*innen sollten »bedachtsam und kritisch« mit Facebook- und Twitter-Beiträgen als Quellen ihrer Arbeit umgehen.

Journalismus studieren? Journalistik oder Kommunikationswissenschaften? Praktiker*innen raten häufig, lieber ein »handfestes« Fach zu wählen. Konstantin Schätz’ und Susanne Kirchhoffs in Ausgabe 2/20 vorgestellter Untersuchung ist zu entnehmen, dass sich diese Missachtung der akademischen Berufsbildung auch in deren verzweifelten Bemühungen zu erkennen gibt, dem Mediengeschäft zu gefallen, ohne der Praxis wie bei anderen Berufen innovative Anstöße zu geben. »Die Vorstellung, dass Aus- und Weiterbildung nicht nur den Bedarf der Medienunternehmen befriedigen müsse, sondern auch ein Impulsgeber sein könnte, der die Journalismusbranche gestalten und über die Qualitätssicherung bzw. Vermittlung von Ethik und Verantwortlichkeit hinaus das Berufsprofil formen kann, ist bei der Mehrheit [der in Österreich für journalistische Berufsbildung Verantwortlichen] kaum verankert.«

Woher kommt die mangelnde Akzeptanz der Journalismusausbildung an Hochschulen, die sich in einem solch schwachen Selbstbewusstsein zeigt? Horst Pöttker leitet sie in seinem Beitrag her von den Verlegern und Chefredakteuren der Weimarer Republik, die dem Gesinnungsjournalismus verhaftet waren. Sie verstanden sich, so seine These, in erster Linie als Sozialdemokraten, Kommunisten, Katholiken, Nationalsozialisten usw. und »mochten die berufliche Sozialisation ihres journalistischen Personals nicht der für Sachlichkeit zuständigen Institution Universität überlassen«. Aus dieser Perspektive kann wissenschaftliche Berufsbildung ein Mittel sein, um die professionelle Autonomie des Journalismus gegen Einflüsse von außen zu verteidigen. Dass das keine vergebliche Hoffnung ist, zeigen heute die USA, wo journalistische Berufsbildung an Universitäten seit den 1920-er Jahren weit verbreitet ist und die Journalist*innen neben den Richter*innen zu den wichtigsten Berufsgruppen gehören, die das demokratische System gegen die Übergriffe der Trump-Administration verteidigen. Würden die deutschen Journalist*innen ebenso beherzt einen Alexander Gauland in die Schranken weisen, wenn der jemals Bundeskanzler wäre?

Peter Welchering arbeitet in seinem Essay den Unterschied zwischen »Gesinnung« und »Haltung« heraus. Er bezieht sich ebenfalls auf die historische Trennung zwischen Gesinnungs- und Geschäftspresse und warnt vor einer Ausrichtung journalistischer Aus- und Weiterbildung an einem von Emil Dovifat geprägten Modell des Gesinnungsjournalismus. Professionelle Haltung dagegen meint die stabile Orientierung an der journalistischen Aufgabe verlässlicher öffentlicher Information.

Im Mittelpunkt der Debatte steht das Verhältnis von »Alternativmedien« zu »Leit-« oder »Mainstream-Medien«. Mein Beitrag betrachtet viele aktuelle Alternativmedien als »Copycats«, die erfolgreiche zivilgesellschaftliche Konzepte kopieren und kapern wollen. Michael Meyen dagegen sieht das Problem bei den Leitmedien, die ihrem demokratischen Auftrag, ein pluralistisches Optimum an unterschiedlichen Positionen öffentlich zu machen, nicht ausreichend nachkommen. Demgegenüber würden bei den »Alternativen« gleich welcher Couleur neue Finanzierungsmodelle, neue Formen der Publikumsbeteiligung und der Publikumsbindung sichtbar. Zur Kritik an den Mainstream-Medien lässt sich fragen, ob die hier ins Spiel gebrachte Aufmerksamkeitsökonomie wirklich nur einem kommerziellen Kalkül oder nicht auch dem Ziel dient, mit Informationen ein möglichst großes Publikum zu erreichen, das zur journalistischen Kernaufgabe Öffentlichkeit gehört?

Mit der Frage nach der verlässlichen Konzentration auf diese Aufgabe, nach der journalistischen Autonomie hat die Debatte insofern zu tun, als beide Beiträge Autonomiedefizite konstatieren: Der eine erkennt sie vor allem bei denen, die unter der falschen Flagge der »Alternativmedien« segeln, um problematische politische Positionen in die Öffentlichkeit zu schicken; der andere sieht sie bei den Leitmedien, die sich mit den herrschenden politischen Positionen, Argumentationsstilen und Legitimationskonzepten gemein machen.

Wie schätzen Sie die Rolle der »Alternativmedien« ein, gestern wie heute? Diskutieren Sie mit – direkt unter den Aufsätzen, dem Essay und den Debattenbeiträgen. Haben Sie Themenanregungen, ein Manuskriptangebot oder Kritik? Schreiben Sie uns an redaktion@journalistik.online.Folgen Sie der Journalistik gern auch auf Facebook: https://www.facebook.com/journalistik.online

Gabriele Hooffacker, im Oktober 2020