Von Fritz Hausjell und Wolfgang R. Langenbucher
Die Idee, die besten Bücher von Journalist:innen auszuwählen und vorzustellen, ist ein Projekt des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien, mitbegründet von Hannes Haas (1957-2014), zusammengestellt von Wolfgang R. Langenbucher und Fritz Hausjell. Es startete mit der ersten Ausgabe im Jahre 2002 in der von Michael Haller begründeten Vierteljahreszeitschrift Message. Nach deren Einstellung wurde die jeweilige Auswahl ab 2015 im Magazin Der österreichische Journalist dokumentiert. 2020 und 2021 kam es in Folge der Covid-Pandemie zu einer Unterbrechung. Mit der Journalistik ist seit 2022 ein neuer Publikationsort gefunden worden.
Platz 1 bis 3
1. Franziska Augstein (2024): Winston Churchill. Biographie. München: dtv, 615 Seiten, 30,- Euro.
Franziska Augstein ist schon lange nicht mehr mit dem Hinweis zu definieren, die Tochter des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein zu sein. Dafür kann die Journalistin und Historikerin ein viel zu großes und überzeugendes publizistisches Werk vorweisen. Für das neueste Buch über den britischen Premierminister der Jahre 1940-1945 und 1951-1955 wird sie vom deutschsprachigen Feuilleton hymnisch gefeiert – mit Recht. Deshalb steht ihr jüngstes Werk hier auch an erster Stelle. Die Berliner Zeitung nennt es ein »fulminantes Buch«, das »das reine Vergnügen« sei: »Der Leser merkt gar nicht, wieviel er lernt, weil er immer wieder laut lachen muss über den feinsinnigen Humor der Autorin oder den beißenden Spott des legendären britischen Premiers.«
»Franziska Augstein hat eine glänzende Biografie dieses Politikers vorgelegt«, schreibt Wilhelm von Sternburg in der Frankfurter Rundschau: »Kenntnisreich hat sie Churchills Leben in die Zeitgeschichte eingebettet. Sprachlich ist die Lektüre ein Vergnügen.« In der Wiener Presse meint Günther Haller, die neue Biografie »besticht durch Empathie und Distanz«. »Man wird anlässlich des bevorstehenden 150. Geburtstags von Winston Churchill Ende November dieses Jahres viel über ihn lesen, über sein unbeugsames Heldentum ebenso wie über seine nicht wenigen kritisierbaren Eigenschaften. Für den deutschen Sprachraum gibt es bereits das große Glück einer Churchill-Biografie, wie man sie sich besser schwer vorstellen kann.« Es gelang der Autorin, so Haller, »ein glänzender Balanceakt zwischen Empathie und Kritik.«
Kai Pfundt dagegen verweist in seiner Besprechung im Bonner General-Anzeiger darauf, dass Augstein zwei »Versuchungen« widerstanden habe: »Erstens stellt sie ihren Hauptdarsteller nicht auf das Podest der Unfehlbarkeit. Ganz im Gegenteil. Immer wieder widmet sie sich Churchills charakterlichen Makeln wie dem zeitlebens ungestillten Ehrgeiz, seinem Opportunismus oder seinen teilweise verheerenden Entscheidungen«. Zweitens beurteile sie den »im viktorianischen England geborenen Politiker« nicht »nach heute gültigen Maßstäben«: »Von Frauen in einflussreichen Positionen hielt er nicht viel, die Klassenschranken der britischen Gesellschaft stellte er nicht in Frage, den nichtweißen Einwohnern und Politikern der Länder des britischen Weltreichs begegnete er mit Verachtung. All dies benennt Augstein deutlich, ohne Churchill als Kind seiner Zeit dafür zu verurteilen.«
Werner Vogt verweist in der Neuen Zürcher Zeitung so wie andere Rezensent:innen auf die enorme Fülle der bereits vorhandenen Literatur zu Churchill, aber 90 Prozent der Fachliteratur sei in englischer Sprache publiziert. »In den letzten drei Jahrzehnten gab es keine deutsche Churchill-Biografie, die es punkto Quantität und Qualität mit diesem Buch aufnehmen könnte.« Vogt überzeugt die sprachliche Umsetzung der umfassenden Recherche der Historikerin und Journalistin Augstein ebenfalls: »Augsteins Buch liest sich wie ein Roman.« »Franziska Augstein ist eine akribische Geschichtsschreiberin, ordnet das Dargestellte stets in einen grösseren Kontext ein und versteht es, die Charaktere der Protagonisten eindringlich zu zeichnen. Mit diesem Buch ist ihr die perfekte Balance zwischen empathischem Verstehen und nüchterner Distanz gelungen.«
2. Rainer Hank (2023): Die Pionierinnen. Wie Journalistinnen nach 1945 unseren Blick auf die Welt veränderten. München: Penguin Verlag, 367 Seiten, 28,- Euro.
»Diese Journalistinnen waren Wegbereiter eines ›Feminismus‹, obwohl oder gerade weil sie ihr Geschlecht und ihre Benachteiligung nicht zum Thema gemacht haben. Sie mussten sich nicht bemühen, tough zu wirken. Es blieb ihnen gar keine Wahl, als sich in der Männerwelt durchzusetzen. Von ihren Stimmen strahlte etwas Neues und bislang Ungehörtes aus. Die heutigen Journalistinnen und Journalisten stehen auf ihren Schultern, ohne es zu wissen«, wirbt Rainer Hank im Prolog seines Buches für mehr historisches Bewusstsein im Journalismus (S. 13f.). Es kann aber auch andere Gründe für die von Hank diagnostizierte Geringschätzung der Pionierinnen geben: Vermutlich haben sowohl die Medienbranche etwa bei der Würdigung der Bestleistungen durch Vergabe von Publizistikpreisen Journalistinnen in den ersten Jahrzehnten nach 1945 zweitklassig behandelt als auch die biografische Forschung der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (damals Zeitungswissenschaft) den Blick überproportional auf die männliche Journalismus-Elite gerichtet.
Anna von Münchhausen notierte in der Zeit: »Keine von ihnen orientierte sich an alten Rollenmustern. Solidarität mit Frauen? Interessierte sie nicht. Sondern Gleichberechtigung war ihr Ziel, als Teil einer breiten Emanzipationsbestrebung in der jungen Bundesrepublik vor 1968.« Die Germanistin und Publizistin Dagmar Just formuliert in ihrer Buchbesprechung in der Schweizer Weltwoche einen Vorwurf gegen den Autor: »Doch je länger man liest, desto stärker wird der Eindruck, dass das Ganze als Kampfschrift gegen den modernen Zeitgeist gedacht ist. Ein trickreicher Versuch, Frauen von gestern gegen Frauen von heute auszuspielen und dabei die Grandes Dames des Journalismus gegen die drei mutmasslichen Lieblingsfeinde des Autors in Stellung zu bringen: feministische Aktivistinnen, Cancel-Culture und die antiamerikanische Attitüde mancher Achtundsechziger.«
Tatsächlich ist die Auswahl der vergessenen Pionierinnen des Journalismus ab 1945 eigenwillig. Links positionierte Journalistinnen sind unter den Portraitierten nur spärlich vertreten. Das wirft die Fragen auf: Waren diese aus dem Exil noch spärlicher zurückgekehrt als ihre Kollegen? Hat die Nachwuchsrekrutierung ab 1945 primär auf bürgerliche Männer fokussiert? Justs Kritik befasst sich abseits dieser Fragen übrigens konkret mit Hanks Auswahl: »Zwölf der dreizehn Frauen gehörten zur gleichen sozialen Schicht der höheren Töchter, die, zwischen 1900 und 1927 geboren, aus Pläsier studieren und arbeiten konnten; leben mussten sie davon nicht. Gleich drei waren Gräfinnen, elf kamen aus gut- bis grossbürgerlichen Familien, und viele agierten auch später mit solventen Ehemännern oder ›breadwinners‹, wie Hank sie nennt, im Rücken. Nur die dreizehnte und jüngste, die 1942 geborene Alice Schwarzer, musste sich ihren Weg als uneheliches Kind aus dem gesellschaftlichen Abseits an die Spitze der Meinungseliten erkämpfen.«
Aber Dagmar Just attestiert Rainer Hank als »Stärke seines Buchs«: »dass es den Mut hat, mit Porträts von einst einflussreichen Frauen zu polarisieren und zum kritischen Lesen der Originaltexte zu inspirieren«. Vielleicht regt es auch dazu an, für ein weiteres Buch die Spurensuche nach weiteren Pionierinnen zu intensivieren.
3. Emran Feroz (2024): Vom Westen nichts Neues. Ein muslimisches Leben zwischen Alpen und Hindukusch. München: C.H.Beck, 220 Seiten, 18,- Euro.
Emran Feroz, geboren 1991, ist Journalist und Autor dieses faszinierenden Bandes. Seine Reportagen und Artikel erscheinen u. a. in der New York Times, der taz, der Wiener Presse und im Profil. 2021 erschien sein Spiegel-Bestseller Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror. Im gleichen Jahr wurde er in Wien mit dem »Concordia-Preis« in der Kategorie Menschenrechte ausgezeichnet. »Tiroler Afghane« nennen manche Emran Feroz. Seit seiner Kindheit lebt der gebürtige Tiroler zwischen den Welten. Als Student kam sein Vater Ende der 1970er-Jahre mit dem Bus aus Kabul nach Europa. Da dann die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, blieb sein Vater in Tirol. Der Sohn wuchs in Innsbruck auf, sprach Tirolerisch, doch als »echter Tiroler« galt er für viele Zeitgenossen nicht. Feroz blieb der »Afghane in Tirol«.
Im neuen Buch Vom Westen nichts Neues erzählt er von seiner Kindheit im Westen Österreichs. Er kennt das Leben in Tirol, vor allem in der Landeshauptstadt Innsbruck, von klein auf und blickt nun in der Erinnerung genau hin. Dem 2001 Neunjährigen stellt am Tag nach 9/11 die Klassenlehrerin die Frage: »Emran, ihr seid doch aus Afghanistan. Weißt du, warum die das gemacht haben?« – »Osama bin Laden ist gar kein Afghane«, antwortete er vor versammelter Klasse schüchtern (S. 34-43).
Er beobachtet und analysiert den Rassismus vieler Menschen in seiner Heimat Tirol und stellt sein differenzierendes Wissen über ›die Afghanen‹ gegen das vorurteilshafte Viertelwissen von ebenfalls in Tirol aufgewachsenen Menschen. Er schildert konkrete Erlebnisse und Gespräche im Alltag, zum Beispiel im Gasthaus oder anderen Orten, wo er Menschen zuhören kann. Erhellend nimmt er die Leser:innen in seinen Lebenserinnerungen mit auf eine spannende Reise, die aufklärend die Vielfalt der afghanischen Kulturen erkennbar macht. Emran Feroz erzählt gekonnt, verwebt in die erlebten Geschichten enorm viel Wissen über afghanische Geschichte und Gegenwart sowie die vielfältigen Kulturen.
Das Herkunftsland seines Vaters erarbeitet er sich vor allem durch Recherchen und Reisen als Journalist. Das vorliegende Buch ist neben der biografischen Introspektion in hohem Maß eine journalistische Analyse des im Westen weit verbreiteten Rassismus gegenüber den muslimischen Lebenswelten. Wer es liest, hat die Chance, weiter zu blicken und Vorurteile zu schwächen.
Platz 4 bis 10
4. Gilda Sahebi (2024): Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten. Frankfurt/M.: S. Fischer, 461 Seiten, 26,- Euro.
Und gleich noch ein wichtiges Stück Buchjournalismus, das geeignet ist, einen klugen Beitrag zur Stärkung der Humanität gegen die Dummheit Rassismus zu leisten, die nicht nur wenig überwunden ist, sondern auch zunehmend Konjunktur hat. Es stammt von der studierten Politikwissenschaftlerin und ausgebildeten Ärztin Gilda Sahebi, die als freie Journalistin für die taz, den Spiegel, die Zeit und die ARD arbeitet. 2022 war sie vom Medium Magazin zur besten Politikjournalistin gekürt worden.
In der Aus- und Weiterbildung sollte dieser Band Pflichtlektüre werden. Denn Sahebi analysiert und argumentiert faktenreich gegen gebräuchliche Narrative in Politik und Medien. Allein das letzte Kapitel unterstreicht die Dringlichkeit. Auf über 40 Seiten wird 374 Menschen gedacht, die in Deutschland zwischen 1946 und 2023 Todesopfer des Rassismus wurden.
Sahebis Analyse startet im 19. Jahrhundert und geht exemplarisch viele Stationen der verschiedenen rassistischen Diskurse in Deutschland durch. Sie zieht relevante wissenschaftliche Studien heran, geht exemplarisch in die von Politik und Medien geführten Debatten und hat bei vielen Fachleuten und Aktivist:innen nachgefragt.
Es ist ein taugliches Buch, um sich und anderen Rassismus abzugewöhnen.
5. Bartholomäus Grill (2023): Bauern sterben. Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört. München: Siedler, 236 Seiten, 24,- Euro.
Mit seinem neuesten Buch kehrt der heute 70jährige, beruflich weit gereiste Journalist gewissermaßen in seine Geburtsheimat zurück, das damals noch ganz bäuerliche Oberaudorf am Inn, eine Bergregion Oberbayerns. Sein wichtigster Arbeitskontinent war Afrika, wo er für Die Zeit und den Spiegel arbeitete. Seine Bücher aus dieser Zeit sind bis heute noch gelesene Meisterwerke des Afrika-Journalismus. Aber auch zahlreiche thematisch andere Werke (etwa 2014 Um uns die Toten. Meine Begegnungen mit dem Sterben) machen diesen klassischen Auslandskorrespondenten darüber hinaus zu einem exemplarischen Buchjournalisten, der mit diesem Medium epochalen Daueraktualitäten auf den Grund geht. Die industrielle Landwirtschaft ist in einem langen Prozess entstanden; diesen beschreibt Grill aus eigenem Erleben und gründlicher Recherche als einen zerstörerischen Vorgang. Man kann die Wut und den Zorn gut nachvollziehen, die sein Schreiben antreiben.
6. Ciani-Sophia Hoeder (2024): Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher. Die Lüge von der Chancengleichheit. München: hanserblau, 255 Seiten, 20,- Euro.
Öffnet man ihre Website, so schaut einem – anders als die Themen ihrer journalistischen Arbeiten erwarten lassen – eine strahlend lachende junge Frau entgegen, die sich selbst als »hoffnungsvolle Pessimistin« bezeichnet. Bekannt wurde sie seit 2019 als Gründerin des ersten Onlinemagazins für Schwarze Frauen in Deutschland. Ihr erstes Buch Wut und Böse bei Hanser 2021 fand begeisterte Rezensent:innen, weil es intellektuellen Genuss mit starken Thesen und Argumenten zu einer gewinnenden Lektüre verband. Mit ihrem zweiten Buch wird sie von der Kritik schon als Erfolgsautorin etikettiert – und dies meint hier nicht einen Begriff der Verlagswerbung, sondern das komplexe, originelle journalistische Handwerk von Ciani-Sophia Hoeder. Dabei widmet sie sich einem Thema, der Klassenschichtung unserer Gesellschaft, das eher verleugnet wird. Sie analysiert und berichtet darüber so lebendig, gesprächsoffen und plastisch fallbezogen, dass die Lektüre zur systematischen Widerlegung gängiger Klischees und Vorurteile wird.
7. Uwe Ritzer (2023): Zwischen Dürre und Flut. Deutschland vor dem Wassernotstand: Was jetzt passieren muss. München: Penguin Verlag, 302 Seiten, 20,- Euro.
Die letzten Wochen in den Sommermonaten des Jahres 2024 haben diesem Buch eine dramatische Aktualität verschafft. Uwe Ritzer ist ein vielfach ausgezeichnetes, langjähriges Redaktionsmitglied der Süddeutschen Zeitung. Nachdrücklich bekannt wurde er durch seine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Fall Gustl Mollath, einem traurigen Versagen der Justiz. Manchmal zusammen mit Ko-Autoren wurde er als Investigativreporter zum Bestsellerjournalisten eines halben Dutzends von Büchern.
Hauptberuflich ist Ritzer Wirtschaftskorrespondent. Das prägt auch seinen Stil: sorgfältige Recherche der Ergebnisse einschlägiger Wissenschaften, nüchterne Analyse und realitätsnahe Reformvorschläge. Das Thema »Wasser« wird auf der Katastrophentagesordnung bleiben; und dieses Buch lehrt uns, wie wir damit umgehen können und müssen.
8. Sabine Böhne-Di Leo (2024): Die Erfindung der Bundesrepublik. Wie unser Grundgesetz entstand. Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 218 Seiten, 23,- Euro.
Nach einem einschlägigen Studium und einer eindrucksvollen Karriere in den unterschiedlichsten Qualitätsmedien ist Sabine Böhne-Di Leo seit fünfzehn Jahren Professorin für Journalismus und Politik an der Hochschule Ansbach. Wie dieses Buch auf jeder Seite beweist, ist sie auch in ihrem akademischen Kontext Journalistin geblieben: in der Originalität der Recherche, dem Duktus einer rasanten historischen Reportage und dem faszinierenden Stil ihrer Erzählung. So wird eine Geschichte rekonstruiert, die in der Tat dramatisch genug war; in Bonn kommt der Parlamentarische Rat zusammen: 61 Männer und vier Frauen, die eine Verfassung schreiben sollen, darunter der Sozialdemokrat Carlo Schmid, der Christdemokrat Konrad Adenauer und der Liberale Theodor Heuss.
Was so entstand, wurde zur Grundlage einer stabilen Demokratie. Sabine Böhne-Di Leo begründet leidenschaftlich, warum wir sie und ihre Verfassung gegen alle Feinde verteidigen müssen.
9. Julian Hans (2024): Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen. München: C.H.Beck, 253 Seiten, 18,- Euro.
Das gehört zu den gewichtigsten Traditionen des Journalismus, nicht nur in Deutschland: Auslandskorrespondentinnen und Auslandskorrespondenten sammeln soviel Wissen und Erlebnisse an, dass ihnen der aktuelle Journalismus zu eng wird; sie werden häufig schon während ihres Aufenthaltes im Gastland zu Buchjournalist:innen. Im Falle von autoritären Regimen und Diktaturen empfiehlt sich dies ohnehin, wenn man ohne Zensurrücksichten berichten will. Auf Julian Hans trifft beides zu; er befasst sich seit mehr als 25 Jahren mit Russland und Osteuropa, u. a. für Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.
Sein Buch hat einen genialen methodischen Einfall zur Grundlage: Fallstudien über in Russland alltägliche Verbrechen, die einen erschütternden Lektüreeindruck hinterlassen. Wie können Gewalt und Erniedrigung, die so viele Menschen erleiden, je aufhören?
10. C. Bernd Sucher (2023): Unsichere Heimat. Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute. München: Piper, 272 Seiten, 24,- Euro.
Wenn man sich mit einem prototypischen Buchjournalisten beschäftigen möchte, so bieten einem wohl nur wenige so viel Stoff wie der heute 75jährige C. Bernd Sucher. Sein erstes Buch war 1977 seine Dissertation über Martin Luther und die Juden. Dann wurde er Journalist, prominent vor allem als Theaterkritiker bei der Süddeutschen Zeitung. Aus diesem Beruf resultierte in den 1990er-Jahren eine Staunen erregende Zahl von Büchern über Schauspieler:innen, weiters Theaterlexika, Kulturreportagen und biographische Porträts. Es folgten ein Ruf an die Hochschule für Fernsehen und Film (München) und die erfolgreiche Entwicklung einer literarischen Vortragsreihe Suchers Leidenschaften, die ihn mit anhaltendem Erfolg durch viele Länder führte und wieder zahlreiche Buchveröffentlichungen (aber auch CDs, Fernsehsendungen, Hör-Bücher) entstehen ließ.
Das alles ist das beispielhafte Lebenswerk eines Journalisten – und eines jüdischen Lebens in Deutschland. In Unsichere Heimat lässt uns Sucher daran teilnehmen, journalistisch lebendig und kritisch engagiert, aus persönlichen Erlebnissen und vielen Gesprächen – ٢٠٢٣ in tragischer Weise ein Buch zur Stunde. Mit seinem jüngsten Werk hat er nun, 2024, doch die Rolle gewechselt und ist zum Romancier geworden (Rahels Reise).
Extra: Eine Übersetzung
Simon Shuster (2024): Vor den Augen der Welt. Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind, Karsten Petersen und Thomas Stauder. München: Goldmann, 526 Seiten, 26,- Euro.
Wie wird wohl der Journalismus mit großem Abstand zu diesem Krieg den ukrainischen Kriegspräsidenten Wolodymyr Selenskyj einst bewerten? Damit schließt sich der Bogen dieser Top 10-Folge. Die beiden Autoren werden es nicht mehr erleben, wenngleich hoffentlich noch das Ende dieses furchtbaren Krieges. Thomas Speckmann stellt gleich am Beginn seiner Besprechung des Buches in der Neuen Zürcher Zeitung den Bezug her: »Manche halten ihn für einen neuen Winston Churchill, für den Führer der freien Welt. Wolodimir Selenski ist der unbeugsame Gegenspieler von Wladimir Putin. Aber wird er so erfolgreich sein, wie Churchill es gegen Hitler war? Wird die Anti-Putin-Koalition den ukrainischen Präsidenten unterstützen wie die Anti-Hitler-Koalition den britischen Kriegspremierminister? Die Zweifel wachsen, in der Ukraine wie ausserhalb.«
Vor uns liegt jedenfalls eine eindrucksvolle journalistische Momentaufnahme, die nicht die journalistische Vogelperspektive einnehmen kann, wie sie Franziska Augstein bei ihrer Analyse der politischen Persönlichkeit Churchill praktizieren konnte.
Simon Shuster ist für diese Zwischenbilanz bestens geeignet. Denn er berichtet seit mehr als 15 Jahren über Russland und die Ukraine, den Großteil der Zeit als Korrespondent für das US-Nachrichtenmagazin Time. Eine Hälfte seiner Familie stammt aus der Ukraine, die andere ist russischer Herkunft. In einem Vorort von Moskau lernte seine Mutter seinen Vater kennen, der wiederum in der Zentralukraine aufwuchs. In der Nähe Moskaus lebte Simon Shuster bis zum sechsten Lebensjahr. Zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion floh die Familie 1989 in die Vereinigten Staaten.
Der Buchjournalismus, zumal jener, der zudem die sprachliche Übersetzung braucht, muss zwangsläufig Einbußen bei der Aktualität hinnehmen. Als Shuster im Sommer 2023 einen Entwurf seiner Selenskyj-Biografie fertig hatte, konnte niemand sagen, wie ein ukrainischer Sieg, falls überhaupt, aussähe. Einige Beobachter, unter ihnen der inzwischen von Selenskyj entlassene Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, zitiert Shuster mit der Befürchtung, der Krieg könnte nie enden: »Nach allem, was ich aus erster Hand über die Russen weiß, wird unser Sieg nicht von Dauer sein. Unser Sieg wird eine Gelegenheit sein, durchzuatmen und sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten.« (S. 486)
»Geschichte wird nicht von Siegern geschrieben, sondern von Zeitzeugen, und ihnen gebührt für dieses Buch mehr Anerkennung als mir«, notiert der Journalist Shuster am Ende seines erhellenden Werkes (S. 491). Er bedankt sich bei hunderten Menschen, die oft mehrmals und stundenlang mit ihm gesprochen haben. Den Abschnitten »Dank« und »Anmerkungen« ist zudem zu entnehmen, dass ein derartiges journalistisches Buchprojekt viele weitere Mitwirkende und zahlreiche konsultierte Quellen benötigt.
Vor den Augen der Welt ist trotz persönlicher Nähe des Journalisten Shuster zu Selenskyj kritisch und inhaltlich mehreres zugleich: Reportage und Kriegschronik sowie Biografie und Psychogramm eines Mannes, der sich nach erfolgreichen Komikerjahren in die schwerste Rolle seines Lebens begibt: die des Kriegspräsidenten, der trotz vieler Toter und Schwerstbeschädigter als Kommunikator immer wieder Zuversicht in der Bevölkerung generieren will und die Hilfe unterstützender Regierungen ausbauen muss.
Gefördert von der Ludwig-Delp-Stiftung
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Zitationsvorschlag
Fritz Hausjell; Wolfgang R. Langenbucher: Die Top 10 des Buchjournalismus. Hinweise auf lesenswerte Bücher von Journalist:innen. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3/4, 2024, 7. Jg., S. 352-360. DOI: 10.1453/2569-152X-3/42024-14636-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-3/42024-14636-de
Erste Online-Veröffentlichung
November 2024