Rezensiert von Gunter Reus
Man mag es kaum glauben: Im Jahr 1968 reicht der 29-jährige Doktorand der Geschichtswissenschaft Peter Pistorius an der Universität zu Köln seine Schrift Rudolf Breitscheid 1874 – 1944. Ein biografischer Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte als Dissertation ein. 56 Jahre später veröffentlicht der Autor, nach einer langen Karriere als Rundfunkredakteur, ARD-Auslandskorrespondent und Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes Berlin, seine überarbeitete Dissertation in Buchform. Darin schreibt er: »Zum Erkenntnisstand über das politische Wirken Rudolf Breitscheids ist […] in den zurückliegenden Jahrzehnten wenig umstürzend Neues hinzugekommen.« (S. 217)
Das trifft tatsächlich zu, und es wirft kein gutes Licht auf die Geschichtswissenschaft wie auch auf die deutsche Sozialdemokratie, die das Wirken Rudolf Breitscheids noch kaum angemessen gewürdigt hat. Immerhin geht es hier um den ehemaligen preußischen Innenminister, den Delegierten beim Genfer Völkerbund, Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion, Mitglied im Parteivorstand und Kämpfer für eine antifaschistische Volksfront im Pariser Exil. Und auch die Journalistik-Wissenschaft hätte allen Grund (gehabt), sich Breitscheid näher zuzuwenden, denn die »Symbolfigur des Parlamentarismus« (S. 169) vor 1933 war im Hauptberuf Journalist und hinterließ ein gewaltiges publizistisches Werk.
Rudolf Breitscheid, der als Redakteur beim Hannoverschen Courier und als Berliner Berichterstatter des Hamburgischen Correspondenten begann, hat Zeit seines Lebens für mehrere Dutzend deutsche und ausländische Presseorgane geschrieben und nahm mit seinen Kommentaren – viel gelesen und viel gefürchtet – erheblichen Einfluss auf die Richtungskämpfe im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Er war Herausgeber der Zeitschriften und Pressedienste Das freie Volk, Sozialistische Auslandspolitik, Der Sozialist, Die Gesellschaft, Zeitschrift für Sozialismus sowie der Wochenzeitung Rheinische Rundschau. Was er dort wie auch in den Blättern Friedrich Naumanns, Theodor Barths, Karl Kautskys, Rudolf Hilferdings und anderer an republikanischer Überzeugung formulierte, trug er zugleich als begnadeter Rhetor in die Parlamente, denen er von 1920 bis zur Machtergreifung der Nazis angehörte.
Nachdrucke des journalistischen Werkes von Breitscheid sind bislang allerdings nur unvollständig greifbar. Als ersten Band einer geplanten Werkausgabe hat Sven Crefeld (2015) Schriften aus den Jahren 1908 bis 1912 ediert. Einige Reichstagsreden Breitscheids und Artikel aus dem französischen Exil liegen vereinzelt in Anthologien politischer Publizistik vor (vgl. Lange 1977 und Zwoch 1974). Die DDR, die etliche Straßen und Schulen nach Breitscheid benannt und sogar eine Briefmarke und eine Postkarte mit seinem Bild herausgegeben hat, ehrte zwar den Antifaschisten, vermied es aber, das Werk eines Mannes vollständig zur Veröffentlichung freizugeben, der trotz gelegentlicher Annäherungen an die KPD dem Kommunismus ein Leben lang distanziert bis ablehnend gegenüberstand.
Nun liegt also immerhin eine politische Biografie des Sozialdemokraten vor – und sie ist ein großer Gewinn für alle, die an der Parteiengeschichte Deutschlands, ja an Geschichte und Pressegeschichte allgemein interessiert sind. Trotz der akademischen Grundlage seines Buches gelingt es Peter Pistorius, lebendig, farbig und kritisch zugleich das Bild eines Mannes zu zeichnen, dessen Werdegang und Persönlichkeit für die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Windungen und Irrungen, die ergriffenen wie die vertanen Chancen des deutschen Sonderwegs im 20. Jahrhundert stehen.
Was aus diesem Land zwischen wilhelminischem Großmachtgehabe und dem Absturz in die Hitler-Barbarei wurde und hätte werden können, ist paradigmatisch eingefangen im Lebenskampf Rudolf Breitscheids: Nach einem Studium der Nationalökonomie betritt er vor dem Ersten Weltkrieg als Anhänger des wirtschaftsliberalen Friedrich Naumann die publizistische Bühne, wird 1903 Mitglied der Freisinnigen Vereinigung und befürwortet die hegemoniale Kolonialpolitik des Kaiserreiches. Schon bald aber wendet er sich im Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht und für sozialpoltische Reformen linksliberalen Positionen zu. Unter dem Einfluss seiner Frau Tony Drevermann, einer kämpferischen Feministin, engagiert er sich für das Frauenwahlrecht. Aus Protest gegen die Annäherung an den rechten Bülow-Block tritt er aus der Partei aus und gründet 1908 die Demokratische Vereinigung, die zwischen Liberalen und SPD oszilliert und deren Vorsitz er übernimmt. Doch die DV bleibt eine Splitterpartei. 1912 lässt Breitscheid sie und seine Parteifreunde links liegen und tritt der SPD bei.
Dort beäugt man den wortgewaltigen Journalisten durchaus misstrauisch, zumal er sich publizistisch nach Kriegsausbruch Kautsky, Bernstein und Haase in ihrer Opposition gegen die Kriegspolitik der Sozialdemokraten anschließt. 1917 verlässt er auch die SPD und findet zur USPD, agitiert gegen die »Scheidemann-Kirche«, bekennt sich, so Pistorius, »zum Klassenkampf« (S. 79). Nach der Novemberrevolution wird Breitscheid preußischer Innenminister. Unter dem Druck der Sachzwänge changiert er zwischen Sympathien für eine Räterepublik und Parlamentarismus, bleibt jedoch in Opposition gegen den Rechtskurs der regierenden SPD und fordert ein »rein sozialistisches Regime« (S. 103). Inzwischen Reichstagsmitglied für die USPD, schwankt er gleichwohl wieder in Richtung SPD. Nach dem Kapp-Putsch findet er mehr und mehr zum parlamentarischen Gedanken zurück und gibt die revolutionäre Rhetorik auf. Als sich die USPD 1922 auflöst, ist er wieder Mitglied der Mehrheitssozialdemokraten und entwickelt sich, so Pistorius, zu einer der »herausragenden Führungsfiguren« der »Partei der Ordnung« (S. 118). Als Mitglied im Außenpolitischen Ausschuss des Reichstags setzt er sich für die europäische Einigung und eine Aussöhnung mit Frankreich ein. Sein Eintreten für die Umsetzung des Versailler Vertrages lässt ihn in den Augen der Rechten zum verhassten »Erfüllungspolitiker« werden. Außenminister Stresemann beruft ihn in die deutsche Delegation beim Genfer Völkerbund. 1928 wird Breitscheid einer der Fraktionsführer der Partei im Reichstag, 1931 Mitglied im Parteivorstand. Das Lavieren der SPD zwischen links und rechts, die Politik der Kompromisse und Beschwichtigungen prägen jetzt auch sein politisches Auftreten und seine Publizistik. Vor einer aktiven Politik gegen die Nationalsozialisten, zum Beispiel durch die Befürwortung eines Generalstreiks, schreckt er zurück. Die »Totalität der Gefahr« (so Pistorius, S. 160) vermag er nicht zu erkennen.
Von den Nazis als »Volksverräter« gebrandmarkt, flieht er im März 1933 über die Schweiz nach Frankreich. Trotz seiner Versuche, unter dem Eindruck der Politik Léon Blums eine antifaschistische deutsche Volksfront aufzubauen, sieht er sich im Exil von der eigenen Partei zunehmend isoliert und vom Zwist der Hitler-Gegner desillusioniert. Er schreibt weiter für sozialistische Zeitungen in Europa, aber eine persönliche Niederlage reiht sich jetzt an die andere. Nach dem Einmarsch der Hitlertruppen in Frankreich muss er 1940 aus Paris in den Süden fliehen, doch wird er, der sich doch gerade der Aussöhnung mit Frankreich veschrieben hatte, in Arles von der französischen Polizei festgenommen und an die Gestapo ausgeliefert. Im KZ Buchenwald kommt der Fürsprecher einer Allianz westlicher Demokratien 1944 auf grotesk-tragische Weise unter nicht ganz geklärten Umständen, aber vermutlich bei einem Luftangriff der westlichen Alliierten ums Leben. Seine Frau, ebenfalls in Buchenwald eingekerkert, überlebt.
Peter Pistorius ›erzählt‹ diesen atemberaubenden Lebenslauf eines deutschen Politikers im 20. Jahrhundert, ohne in die Fallen einer idealisierenden ›Personality Story‹ zu tappen. Nicht alles ist voraussetzungslos geschrieben; die Spielarten und Abgrenzungen der liberalen Parteien vor 1914 zu begreifen, aber auch das Verständnis des politischen Hin und Hers am Ende der Weimarer Republik verlangt Nichthistorikern einiges ab. Anderes wiederum wird in der Darstellung kaum beleuchtet, wie zum Beispiel Breitscheids Haltung zur Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD 1914. Auch sein Einsatz für Frauenrechte und der politische Einfluss seiner Frau Tony hätten mehr Beachtung verdient. Aus journalistikwissenschaftlicher Sicht muss man bedauern, dass Pistorius seine Monografie zwar im Wesentlichen auf Zeitungs- und Zeitschriftenzitate aufbaut. Doch diese dienen ›nur‹ als Belege für politische Standpunkte. Über journalistische Charakteristika in Breitscheids Werk, über Rhetorik, Sprache, Publikumsreaktionen, publizistische Leitlinien oder die Strategie des Herausgebers Breitscheid erfährt man nichts.
Insgesamt aber ist diese erste umfassende Würdigung Rudolf Breitscheids ein exzellenter Beleg dafür, wie erkenntnisreich biografische Forschung in der Sozialwissenschaft sein kann. Dabei lässt sich Pistorius von der Faszination für seinen Gegenstand niemals blenden. Immer wieder hebt er Breitscheids Illusionen, die dogmatischen Versteifungen und Rechthabereien, das Missionarsdenken, die puritanische Strenge und auch die rhetorische Agressivität dieses Politikerjournalisten kritisch hervor. Breitscheid, der fünfmal in seinem Leben die politische Partei gewechselt hat, galt einigen seiner Gegner als Spalter. Dass er sich wie ein britischer Aristokrat distinguiert und vornehm kleidete, trug ihm zudem den verächtlichen Beinamen »Lord Breitscheid« ein. Rechthaberei, Parteienwechsel und Habitus lassen unwillkürlich an eine politische Figur wie Sahra Wagenknecht denken, so wie auch die zögernde Politik gegenüber der NSDAP vor 1933 Assoziationen an heutige politische Konstellationen hervorruft. Und Einsicht in solche politische Ähnlichkeiten ist ja nicht das Schlechteste, was historische Bildung zu leisten vermag.
Die überarbeitete Fassung dieser Dissertation des Journalisten Peter Pistorius, gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist ausgesprochen gut lesbar. Auf ein professionelles Korrektorat hat der Verlag aber offensichtlich verzichtet – wie heute leider üblich. So stören etwa 30 Satz-, Zeichensetzungs- und Tippfehler, bis hin zu der unfreiwillig kalauernden Schreibweise »Karl Kautzky« (Fußnote S. 69) oder der peinlichen Verwechslung von Kautsky und Eduard Bernstein (Bildtext S. 79). Für eine zweite Auflage dieses wichtigen und hochinteressanten Buches, die man Autor und Verlag nur wünschen kann, bleibt also noch etwas zu tun.
Über den Rezensenten
Dr. Gunter Reus ist apl. Professor für Journalistik im Ruhestand an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und Mitherausgeber der Journalistik/Journalism Research.
Literatur
Crefeld, Sven (Hrsg.) (2015): Rudolf Breitscheid. Die vornehmste Aufgabe der Linken ist die Kritik. Publikationen 1908–1912. Berlin: edition rubrin.
Lange, Dieter (Hrsg.) (1977): Antifaschistische Beiträge 1933–1939. Frankfurt/M.: Verlag Marxistische Blätter.
Zwoch, Gerhard (Hrsg.) (1974): Reichstagsreden. Bonn: Verlag AZ Studio.
Über diesen Titel
Peter Pistorius (2024): Rudolf Breitscheid 1874–1944. Kampf um Wahrheit und Macht. Marburg: Schüren, 232 Seiten, 28,- Euro.