Von Hans Peter Bull
Abstract: In einer Umfrage bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Norddeutschen Rundfunks, bei der mehr als tausend Beschäftigte aller Ebenen angehört worden sind, ist ein schlechtes Betriebsklima festgestellt worden, und den Leitungsorganen des Senders ist von denen, die sich geäußert haben, überwiegend ein schlechtes Zeugnis ausgestellt worden. Von den Vorgesetzten aller Ebenen wird insbesondere eine bessere »Führungskultur« erwartet. Viele Führungskräfte seien durch die gegenwärtig stattfindenden großen Veränderungsprozesse im öffentlich-rechtlichen Rundfunk überfordert und daher nicht in der Lage, klare Richtlinien für den notwendigen Wandel der Organisation zu entwickeln. In dem folgenden Artikel wird die Kritik näher analysiert. Insbesondere wird gefragt, was »Führung« in einer Rundfunkanstalt angesichts der gegebenen äußeren Rahmenbedingungen überhaupt bewirken kann. Die gewonnenen Einsichten werden auf die allgemeine rundfunkpolitische Diskussion und speziell den Wettbewerb des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit der gedruckten Presse bezogen.
Über die Qualität und die Kosten des öffentlich-rechtlichen Rundfunkangebots wird seit Jahrzehnten immer wieder gestritten. Neuerdings aber hat die Kritik an angeblicher Verschwendung der Rundfunkanstalten und angeblich schlechter Qualität ihres Fernsehprogramms wieder einmal die Form von Empörung angenommen und den Ruf nicht nach Reform, sondern nach »Revolution« ausgelöst.[1] Kurz zuvor waren die als skandalös empfundene luxuriöse Ausstattung einer Intendantin und die »Klimakrise« in zwei Landesfunkhäusern aufgedeckt worden.[2] In dem altbekannten Konflikt zwischen der privatwirtschaftlichen Presse und dem beitragsfinanzierten Rundfunk haben sich die Fronten wieder einmal verschoben; die Öffentlich-Rechtlichen müssen verstärkt um ihre Akzeptanz werben.
Man darf wohl annehmen, dass seitdem in allen Rundfunkanstalten intensive Gespräche über Auswege aus dieser Krise geführt und interne Strategien zur Behebung der festgestellten Mängel erarbeitet worden sind. Der Intendant des Norddeutschen Rundfunks (NDR), Joachim Knuth, hat eine Kommission mit dem Auftrag eingesetzt, die »Unternehmenskultur« des Senders zu untersuchen und Vorschläge zu ihrer Verbesserung zu erarbeiten. Gegenüber den Mitarbeitenden des NDR begründete Knuth diesen Auftrag wie folgt:
»Um das bestmögliche Programm zu machen, brauchen wir ein gutes Klima und eine Kultur des gegenseitigen Respekts – das haben mir die vergangenen Wochen und die Ereignisse in den Landesfunkhäusern Hamburg und Kiel mehr als deutlich gezeigt. Dort waren diese Voraussetzungen offensichtlich nicht gegeben. Diesem Befund wollen wir auf den Grund gehen. Wertschätzung und Vertrauen sind für mich die Grundlage für ein vernünftiges Miteinander.«[3]
Das Untersuchungsteam bestand aus dem Theologen Stephan Reimers als »Beauftragtem« und fünf Organisations- und Managementberaterinnen und -beratern; bei einigen von ihnen sind Zusatzqualifikationen in Psychologie, Journalistik, Coaching, Mediation, Teamentwicklung u. ä. angegeben.
Das Ergebnis der Untersuchungen ist vielfältig, differenziert und inhaltlich beachtenswert. Es wird jedoch in der Berichterstattung häufig reduziert auf die Feststellung, dass die »Führungskultur« im NDR schlecht sei. Aus den Gesprächen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – es waren insgesamt über tausend Personen – ergab sich für die Kommission insbesondere, dass »viele Führungskräfte des NDR […] mit der Wucht der Veränderungen überfordert und häufig nicht in der Lage« seien, »die Wandlungsprozesse wirksam zu managen« (S. 7). »Viele Mitarbeitende« hätten kein Vertrauen in die Geschäftsleitung« (ebd.). Der Intendant zeigt sich von der Kritik betroffen, und in der Presse wird schon über seine Ablösung spekuliert (Fischer 2023). So könnte aus der Diskussion um die Grundfragen der Rundfunkentwicklung eine letztlich marginale Personalfrage werden – womit die wirklichen oder vermeintlichen Schwächen der gegenwärtigen Organisation gewiss nicht behoben würden.
Es ist angebracht, die Vielzahl der Behauptungen und Vorschläge zu ordnen. Ein Ziel der folgenden Ausführungen ist es, mehr Klarheit über die Bedeutung eines Wandels im Management der Anstalten zu gewinnen. Insbesondere ist zu fragen, ob die Qualität des Arbeitsergebnisses wirklich ganz wesentlich von der Führung der Organisation abhängt oder welche anderen Faktoren für eine negative Einschätzung des Ergebnisses ursächlich sind. Im Folgenden werden daher die Stimmung im Sender und die Klagen über die aktuelle Führung und Verwaltung näher beschrieben und in ihrer Bedeutung kritisch analysiert. Abschließend werden – über die Auswertung des Klimaberichts hinaus – Perspektiven der weiteren Entwicklung skizziert.
Es kommt bei all diesen Erörterungen darauf an, die Unterschiede der Perspektiven herauszuarbeiten, die Tatsachenbehauptungen zu überprüfen und die Argumente der verschiedenen Gruppen unter dem Aspekt der rechtlichen und politischen Angemessenheit einander gegenüberzustellen. Schon an dieser Stelle kann resümiert werden:
- Einige Monita der Mitarbeiterschaft betreffen Fragen der richtigen Organisation, die nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen und durch Anwendung praktischer Kunstregeln lösbar sind (z. B. durch Klarstellung von Zuständigkeiten).
- Ein Teil der Klagen betrifft die Schwierigkeiten bei der Anpassung der Organisation an neue Entwicklungen, seien es solche der Arbeitsorganisation, seien es technische oder medienpolitische Entwicklungen, die durch die allgemeine Digitalisierung und den Wandel des Publikumsgeschmacks bedingt sind. Übergangsphasen verursachen in jeder Organisation Unsicherheit und Missmut, Besitzstandsängste und Bewusstseinskrisen; die Managementtheorie hält seit langem Konzepte und Rezepte zur Bewältigung solcher Zustände vor (»Change Management«) (dazu etwa Schridde 2011).
- Hinter anderen Beschwerden werden grundlegende Meinungsverschiedenheiten erkennbar: Dissense über die Aufgaben und Wirkungen des Rundfunks (und damit über wesentliche politische Weichenstellungen) sowie über die richtige Methode, die rechtlichen Vorgaben durchzusetzen, und die daraus ableitbaren Regeln angemessener Führung. Solche Grundkonflikte sind mit »besserem Führungsstil« oder sonstigen Änderungen der Kommunikationsweise nicht zu heilen; vielmehr sind klärende Entscheidungen der leitenden Organe der Rundfunkanstalten erforderlich, und möglicherweise muss der Staat die Freiheit des Rundfunks durch verbindliche Normen stärken und die Normen nach innen mit Aufsichtsmaßnahmen durchsetzen. Hier ist also trotz der gebotenen »Staatsferne« auch die Politik gefordert.
Das Binnenklima beim NDR in der Perspektive des »Klimaberichts«
Dem »Klimabericht« von Stephan Reimers u. a. lässt sich ein differenziertes Bild der internen Situation einer Rundfunkanstalt entnehmen. Die Kommission hat ihre Erkenntnisse in zwölf Thesen zusammengefasst, aus denen die Vielfalt der Stimmungen und Meinungen erkennbar wird (S. 6f.). So wird einerseits festgestellt, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen »mit Überzeugung und Leidenschaft hinter dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und ›ihrem‹ NDR« stehen, dass sie einen »hohen Anspruch an Professionalität und gute Arbeit« haben und dass es im NDR zwar »Menschen mit Angst und Besorgnis, aber kein generelles Klima der Angst« gibt (Thesen 1 und 2) – das letztere war von manchen behauptet worden.
Der NDR sei »ein behördlich organisiertes Rundfunkunternehmen« mit einer »immensen Binnenkomplexität«, »starren Strukturen, bürokratischen Prozessen und vielen Regeln« (These 4). An der Notwendigkeit von Veränderungen (die durch die Digitalisierung des Programmangebots entstanden sei – Stichwort: »crossmediale Nutzung« des Kommunikationskanäle und -formate) werde nicht gezweifelt, wohl aber an der Fähigkeit vieler Führungskräfte, die Organisation an die neuen Erfordernisse anzupassen (Thesen 3 und 5). Zwar seien »zahlreiche Mitarbeitende […] mit ihrer Führungskraft zufrieden« und es gebe »Abteilungen, die effizient zusammenarbeiten«. Das liege jedoch an dem persönlichen Einsatz und der Kompetenz der jeweiligen Führungskraft. Es gebe »gute Führung nicht wegen der Strukturen beim NDR, sondern erstaunlicherweise trotzdem« (These 5). Mangelndes Vertrauen vieler Mitarbeiter in die »Geschäftsleitung« wird erklärt mit einem Mangel an »Orientierung und klaren Entscheidungen hinsichtlich der strategischen Ausrichtung des NDR«. Die Kommunikation der Geschäftsleitung werde häufig als »Einbahnstraße« beschrieben; gewünscht werde »mehr Kontakt und echtes Zuhören von oben nach unten« (These 6).
Ein Abschnitt der weiteren Feststellungen betrifft die arbeitsrechtliche Situation: Zu Unmut führe die duale Struktur der Beschäftigungsverhältnisse, d. h. die Aufspaltung in festangestellte und freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (»Zwei-Klassen-Gesellschaft«, These 7), aber auch eine überholte Systematik der Stellen- und Vergütungsstruktur und damit zu hohe oder unklare Leistungserwartungen an die Mitarbeitenden (These 8). Die Arbeitsbelastung sei bei vielen sehr hoch. Mitarbeitende, die viel arbeiten, wünschten sich »von ihren Führungskräften statt lobender Worte mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit, echtes Zuhören und ehrliche Rückmeldung, eine klare Strategie und Perspektiven für Veränderung und Verbesserung« (These 9).
Auch die Thesen 10 und 11 behandeln die Kommunikationsprozesse im Hause NDR. Einerseits seien »die kollegialen Beziehungen im NDR […] stellenweise deutlich von gegenseitigem Misstrauen und Konflikten geprägt«; »vermisst werden wahrhaftige Resonanz und echter Dialog« (These 10). Andererseits wird das gesamte »Kommunikationsunternehmen NDR« dafür kritisiert, dass es sich schwer tue »damit, die eigene Profession nach innen anzuwenden und eine lebendige Kommunikations- und Feedbackkultur zu etablieren«. Statt dessen herrsche »eine vermeidende Kritik- und Konfliktkultur« (These 11). Und schließlich wird resümiert: »Personalarbeit hat im NDR wenig Bedeutung«. Sie werde »überwiegend als Personaladministration verstanden«; es fehle an »obligatorischen Programmen zum Kompetenzaufbau«. »Reflexionsprozesse, individuelles und organisationelles Lernen« seien teilweise unterentwickelt (These 12).
Die Belegschaft ist gespalten
Schon in der Einleitung stellt Stephan Reimers fest, dass »Widersprüche und Paradoxien« auftreten, wie in drei Punkten zusammengefasst (S. 8):
- »Veränderung ist absolut notwendig. Gleichzeitig gibt es starke Beharrungskräfte.«
- »Führung ist entscheidend. Gleichzeitig streben viele nach Autonomie und Teilhabe.«
- »Ein offenes Miteinander ist das Gebot der Stunde. Gleichzeitig schotten sich viele ab.«
Durch zahlreiche Feststellungen der Klima-Kommission wird deutlich, in wie hohem Maße die Mitarbeiterschaft des NDR gespalten ist. Um welches spezielle Thema es auch geht – stets wird berichtet, dass Einzelne ihre Arbeitsumwelt und die anstehenden Veränderungen durchaus positiv beurteilen, während andere teils moderate, teils aber auch heftige bis beleidigende Kritik äußern. Dabei fällt auf, dass sich – wie immer bei vertraulichen Befragungsaktionen – mehr Unzufriedene aus der Deckung wagen. Ein Teilnehmer spricht verallgemeinernd von der »Meckerkultur« im NDR, die Kommission zurückhaltender von »einigen«, die »in einer Negativspirale« seien und »klammern, jammern und zetern« (S. 35). Dass in den verschiedenen Arbeitseinheiten, Beschäftigtengruppen und Zuständigkeitsbereichen eine ganz unterschiedliche Stimmung herrscht, erläutert die Kommission in einem besonderen Abschnitt »Ein Sender – viele Klimazonen« (S. 45-61) – und auch, dass erhebliche Spannungen zwischen den Einheiten bestehen (S. 51ff.). Wie groß der Anteil der Verdrossenen tatsächlich ist, lässt sich schwer feststellen, aber unabhängig davon, ob diese Gruppe repräsentativ ist oder nicht, verdienen ihre Äußerungen Beachtung.
Die meisten Veränderungswünsche richten sich an die Führung des Senders. Immer wieder wird die Forderung nach einer »neuen Führungskultur« erhoben. Im Zusammenhang mit einer besonders dramatischen Krise wird sie durch Hinweise auf einen falschen, insbesondere »robusten«, »autoritär-direktoralen« Führungsstil, »radikal machtstrategisches Kommandoverhalten, fehlende Kritikfähigkeit, Selbstgerechtigkeit und Irrationalität« einer Vorgesetzten, nämlich der Direktorin des Landesfunkhauses Hamburg illustriert. Es ist die Rede von Einschüchterung, Verletzung (von Gefühlen) und Vergiftung (des innerbetrieblichen Klimas) (S. 12f.). Inwieweit gerade diese Vorwürfe begründet sind, wird – wohl wegen der schwebenden rechtlichen Auseinandersetzung und weil es der Kommission vornehmlich auf die Wahrnehmung der Mitarbeiterschaft ankam – nicht behandelt. Nach den Analysen der Klima-Kommission treffen die scharf kritischen Urteile »keinesfalls auf alle Führungskräfte im NDR« zu. Es gebe auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, »die mit ihren Führungskräften zufrieden sind« (S. 13).
Besonders herausgearbeitet wird die Kritik an der Führungspraxis der »Geschäftsleitung« aus dem Intendanten, den Direktorinnen und Direktoren sowie den Chefinnen und Chefs der Landesfunkhäuser (S. 15ff.). Dort fehle es an »Klarheit in der Sprache und im Handeln«. Die Kommunikation und Rhetorik werde »häufig als empathielos und glatt«, ohne »echte Wertschätzung« empfunden (S. 17). »Es gibt kein echtes Zuhören. Die Intendanz meint zwar, sie würde zuhören, weil sie in Schulungen gelernt hat, wie wichtig das ist. Aber das ist nicht echt. Rhetorisch brillant, aber nicht echt« (ebd.). Außerdem fehle an der Spitze des »Unternehmens« »die unternehmerische Denke« (ebd.). Mitglieder der Geschäftsleitung schätzen ihr Zusammenwirken positiv ein, doch die Mehrheit der Direktorinnen und Direktoren »formuliert vorsichtig Kritik an der Zusammenarbeit im Gremium«. So heißt es: »Wir machen es nicht gut zusammen in der Geschäftsleitung. Jeder schaut nur auf den eigenen Bereich« (S. 17f.).
Als Ursache für viel Unmut werden teils Fehlverhalten einzelner Personen, teils personenunabhängige veraltete und verhärtete »Strukturen« und insbesondere eine falsche »Führungskultur«, aber auch die falsch angelegte und intransparente Besetzung von Führungsposten benannt. Leitungspositionen im Programm würden »nach journalistischen Fähigkeiten und weniger nach Führungstauglichkeit und Sozialverhalten« besetzt. »Um das Klima zu verbessern«, sei »eine grundlegende Veränderung der Besetzungspraxis von Führungskräften unerlässlich« (S. 18f.).
Es fällt auf, dass die befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich offenbar gar nicht darüber geäußert haben, welche Rolle die Personalvertretung und der im NDR-Staatsvertrag (§§ 41f.) vorgesehene Redaktionsausschuss spielen oder gespielt haben. Auch die Rolle des Rundfunkrates wird nicht angesprochen.
Ausführlich wird die arbeitsrechtliche Lage der »freien« und befristeten Mitarbeiter und der »Leiharbeiter« thematisiert (S. 20-29). Diese sind durch große Unsicherheit belastet und leiden in der täglichen Arbeit unter unfairen Praktiken; dass darunter auch das Betriebsklima leidet, liegt auf der Hand. Behandelt werden auch andere Rahmenbedingungen der Arbeit wie ein ungerechtes Entlohnungssystem, faktische Abhängigkeiten und Arbeitsüberlastung. Mehrfach wird Arbeitsüberlastung moniert, auch bei den festen Mitarbeitern (S. 41ff.). Ein Mitarbeiter nennt das Arbeitspensum »unmenschlich« (S. 42; dort auch weitere drastische Äußerungen).
Transformation zur »crossmedialen« Produktion – schon gescheitert?
Ein eigenes Kapitel ist der Debatte um die Zukunft des Rundfunks und die richtige Transformationsstrategie gewidmet (S. 30-34); im folgenden Kapitel geht es sodann um die Rahmenbedingungen der im Gange befindlichen Veränderungen (S. 35-44). Die politische und mediale Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk schlägt sich selbstverständlich auch in den internen Diskussionen der Rundfunkanstalt nieder – als ein Faktor mehr, der Unmut und Unsicherheit beim Personal verursacht. Man wünscht sich »eine Gesamtstrategie des NDR«, »eine neue Vision« oder (den Hamburger Kultur- und Mediensenator Carsten Brosda zitierend) »einen ambitionierten Zukunftsentwurf, von dem ausgehend die konkreten Reformschritte abgeleitet werden« (S. 31). Der Senator richtet seinen Appell freilich in erster Linie an die Politik, nicht an die Anstalten selbst, meint jedoch, diese müssten sich in die Grundsatzdebatte »noch mehr und noch leidenschaftlicher einbringen« (S. 31).
Der NDR hat bereits eine umfassende Organisationsreform in Gestalt des »crossmedialen Geschäftsmodells« eingeleitet. Die bisher getrennten Sendekanäle Hörfunk, Fernsehen und Online werden zu einem nach Themenbereichen gegliederten Verbund zusammengefasst. Diese Reorganisation hat bei den Mitarbeitern Stress ausgelöst; man fühlt sich überfordert (S. 33). Glaubt man einzelnen Interviewpartnern, so ist die »Crossmedialität« bereits gescheitert (S. 39, s.a. S. 46f. zum Konzept »One Direction«).
»Viel Kommunikation, aber wenig Verständigung«
An vielen Stellen des Berichts wird mitgeteilt und in einem eigenen Kapitel (S. 62-68) näher ausgeführt, dass die interne Kommunikation unbefriedigend verlaufe. Zwischen den Menschen finde »zwar viel Kommunikation, aber wenig Verständigung« statt; es gebe »wenig persönlichen Kontakt und echtes Zuhören« (S. 62). So wird gesagt, die Gesprächsangebote der Führungskräfte seien »häufig eindimensional angelegt, nach dem Muster, die Hierarchie spricht und und die Mannschaft stellt (kritische) Fragen«. Die Kommunikationsrunden würden als »zu glatt, enthoben und aufgesetzt« empfunden. Es seien jedes Mal die gleichen Kolleginnen und Kollegen, die sich zu Wort melden; man müsse »auch die Schweiger motivieren« (S. 65). Beklagt werde »der Verlust an Streit- und Diskussionskultur«, aber auch »ein Zuviel an Streit«. Einig sei man sich darüber, dass die Toleranz gegenüber anderen Meinungen gestärkt, Misstrauen abgebaut, Fehler toleriert werden sollten (S. 66). Feedbackkultur und Fehlerkultur beim NDR seien defizitär (S. 66ff.). Als positives Beispiel wird angeführt, dass die Produktionsdirektion ein »360-Grad-Führungsfeedback« veranstaltet habe (S. 67). Negativ wird der Umgangston zahlreicher (!) Vorgesetzter im NDR herausgestellt. Scharfe Kritik werde gelegentlich sogar mit einer »herabsetzenden«, »demütigenden« Wortwahl vorgebracht (S. 64).
Manche Klagen sind offensichtlich begründet …
Ein Teil der Klagen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist offensichtlich begründet und kann durch rechtliche und organisatorische Veränderungen ausgeräumt werden. So sollte dringend versucht werden, die Schlechterstellung der »freien« und befristeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beenden, die Vergütungsregeln an veränderte Leistungsanforderungen anzupassen und ungenaue Zuständigkeiten zu klären. Zur Abhilfe ist sowohl eine Änderung verschiedener Regeln wie auch der Praxis ihrer Anwendung nötig.
Weitgehend einleuchtend ist ferner die Kritik des Klimaberichts an der Personalverwaltung des Senders (S. 69ff.). Eine so große und kritikanfällige Organisation wie eine Rundfunkanstalt braucht eine Personalabteilung, die nicht nur Verträge abschließt und abwickelt, Bezüge anweist, Steuern und Sozialabgaben abführt und Rücklagen für die Altersvorsorge ausscheidender Mitarbeiter bildet. Die Aufgabe des »Personalmanagements« umfasst heute auch die sorgfältig geplante und durchgeführte Personalauswahl und die ständige Begleitung der Arbeitsverhältnisse durch Fortbildungsangebote sowie individuelle Karriereplanung, Umsetzungen und Beförderungen. Dafür scheint beim NDR das Personal der zuständigen Abteilung nicht auszureichen. Nicht auszuschließen ist übrigens, dass dieser Zustand einer Strategie zu verdanken ist, die für die unvermeidlichen Sparforderungen vor allem Stellen in der Verwaltung zur Streichung vorschlägt, weil jegliche Einsparung bei der Herstellung und Verbreitung von Programmen abgelehnt wird.
Verständlich ist auch der Ärger über die zu große Binnenkomplexität. Die Zuständigkeiten sind offenbar auf viele Ebenen und Einheiten aufgeteilt, die Entscheidungsprozesse lang und intransparent. Unklare Zuständigkeitsregeln führen zu »Rangeleien« und Fehlern (S. 38). Die Forderung nach flacheren Hierarchien und mehr Transparenz der Entscheidungen dürfte also berechtigt sein. Eine solche Organisation wirksam zu verändern, gehört zu den schwersten Aufgaben einer jeden Führungsinstanz. Wenn gleichzeitig die Forderung nach stärkerer Partizipation der Betroffenen erhoben wird, ist sie noch schwerer zu erfüllen als ohnehin schon. Unternehmensleitungen bedienen sich zur Lösung dieser Aufgabe regelmäßig externen Sachverstandes, und auch Behörden haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Unternehmensberatungen mit solchen Konzepten beauftragt. Die Erfahrungen sprechen freilich dafür, wesentliche Schritte eines gewünschten Wandlungsprozesses auf die eigene Untersuchung der Schwachstellen und eigene Überlegungen zur Veränderung zu gründen und insbesondere Vertreter der Mitarbeiterschaft daran zu beteiligen. Die externen Berater haben den Vorteil der Unbefangenheit, aber sie müssen sich ein konkretes Bild der zu verändernden Organisation und des Binnenklimas erst erarbeiten, während die Insider die Charakteristika ihres Untersuchungsgegenstandes eben schon genau kennen (können).
… andere sind klärungsbedürftig oder nicht nachvollziehbar
Ein anderer Teil der Beschwerden ist zumindest unklar, wenn nicht widersprüchlich. So wird einerseits Führungsschwäche bemängelt, andererseits behauptet, Entscheidungen würden »durchgedrückt, angeordnet« (S. 13). Wie berichtet, wird das »hierarchische System des NDR« beklagt, aber es wird nicht erklärt, welche organisatorischen Einheiten überflüssig oder störend seien. Es wird bemerkt, dass »sich nicht alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Führungsverantwortung auch als Führungskräfte fühlen« und dass Führungskräfte der mittleren Ebenen sich nur wie Erfüllungsgehilfen höherer Instanzen vorkämen (S. 11). Damit wird aber wohl keine falsche Organisationsweise, sondern eine schlechte Praxis der Kompetenzwahrnehmung bemängelt.
Nicht nachvollziehbar ist es, dass sich Mitarbeiter über die Sitz- und Stehordnung bei einer Veranstaltung beklagt haben, die dazu dienen sollte, dass der Intendant sich den Fragen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellte. Bei einer Diskussionsrunde »Open Talk« in der Produktionsdirektion habe man förmlich das »oben und unten« im NDR gesehen: »Der Intendant steht, das Publikum sitzt. Das Publikum fragt, der Intendant antwortet« (S. 66). Wie anders sollte eine solche Veranstaltung geordnet werden? Die sinnbildliche »gleiche Augenhöhe« von Fragenden und Antwortendem, die sich offenbar einige Teilnehmer gewünscht hätten, wäre bei einer größeren Zahl Anwesender recht unpraktisch gewesen.
Die als unangenehm empfundene Überordnung des Intendanten bleibt auch dann bestehen, wenn Intendant, Direktoren und Redakteure an einem großen Tisch zusammensitzen. Denn sie ist durch die Rundfunkgesetze und -staatsverträge und die Satzungen begründet, in denen die Organe der Anstalten festgelegt sind. »Der Intendant oder die Intendantin leitet den NDR« und »hat dafür Sorge zu tragen, dass das Angebot des NDR den Angebotsanforderungen […] entspricht« (§ 30 Abs. 1 und 6 NDR-StV). Die Leitungsperson ist gehalten, sich mit ihrer Stellvertretung und den Direktoren und Direktorinnen zu beraten, und sie unterliegt einer Aufsicht des Rundfunkrates (in »allgemeinen Programmangelegenheiten«) (§ 19 Abs. 2 NDR-StV), bleibt aber den Mitarbeitern übergeordnet – auch wenn er oder sie diese Rechtsstellung nur selten oder gar nicht nutzt. »Gleiche Augenhöhe« ist eine gute Erfolgsvoraussetzung für herrschaftsfreien Diskurs, aber nicht für die verbindliche Entscheidung umstrittener Fragen. Überall wo die Verfassung die Entscheidung durch Repräsentanten und deren Beauftragte vorsieht, entsteht zwangsläufig Ungleichheit der Machtpositionen, die durch gleiche Sitzhöhe allenfalls vorübergehend kaschiert werden kann. Vorgesetzte müssen ihre Aufsichtsfunktion erfüllen, auch wenn sie sich dabei unbeliebt machen.[4]
Was kann »Führung«?
Je genauer man die Kritik betrachtet, desto fragwürdiger wird die These von der zentralen Bedeutung schlechter Führung für das Binnenklima der Anstalt und für die Qualität des Programms.[5] Der Erfolg von Führung hängt »z. B. von der Persönlichkeit, dem Führungsverhalten (etwa dem Führungsstil […]) und der jeweiligen Führungssituation ab; aber auch von den Geführten selbst: wenn z. B. Sanktionsdrohungen aus Sicht der Geführten keine Bedeutung haben, stellen sie auch keine führungsrelevante Machtquelle mehr dar« (Ridder/Schirmer [2011], S. 207).
Die Vorschläge, die die Reimers-Kommission unterbreitet hat, sind zum Teil der Managementlehre entnommen, die zunächst für Wirtschaftsunternehmen entwickelt worden ist. Die Übertragung von Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaft auch auf öffentlich-rechtliche Einheiten ist insofern angemessen, als viele Erkenntnisse der Managementtheorie auf jede Organisation anwendbar sind, in der Menschen unter einer gemeinsamen »Mission« zusammenarbeiten: Unabhängig von der Organisationsform müssen die Mitglieder der Organisation motiviert, die »Human Resources« gepflegt und weiterentwickelt werden. Dies ist, wie schon gesagt, Aufgabe des Personalmanagements; die Führung kann dazu durch vorbildliches Verhalten beitragen.
Die »Führung« einer öffentlich-rechtlichen Organisation wird sich aber stets von der »Geschäftsführung« einer privaten Firma unterscheiden. Eine Rundfunkanstalt ist »Unternehmen« allenfalls im übertragenen Sinne. Da sie keine Gewinnabsicht verfolgt, handelt sie zwangsläufig anders als ein Privatunternehmen. Sie ist keinem Aktionär oder Anteilsinhaber dazu verpflichtet, auf die Rentabilität des Geschäftsbetriebs zu achten, sondern soll (wie alle öffentlich-rechtlichen Organisationen) »wirtschaftlich« handeln, also mit den Pflichtbeiträgen der Bürger sorgfältig und sparsam umgehen (vgl. § 32 Abs. 2 NDR-StV). Die Intendanten sind nicht (bloß) Geschäftsführer, also gesetzliche Vertreter der Anstalten beim Abschluss von Verträgen und bei sonstigen Rechtsgeschäften, sondern Garanten für die Einhaltung des verfassungsmäßigen Auftrags der Anstalten (vgl. § 30 Abs. 6 NDR-StV). »Führungskultur« bedeutet in Rundfunkanstalten also mehr als den praktizierten (ungeschriebenen) Stil des Umgangs mit der Mitarbeiterschaft und deren Ausrichtung auf die Rentabilität der Organisation; sie ist auch Element der internen Aufsicht im Interesse der »stakeholder«, nämlich der Allgemeinheit der Bürgerinnen und Bürger.
Die »Merkmale einer guten Führung«, wie sie von Unternehmensberatungen zusammengestellt worden sind, passen daher nur bedingt auf die Öffentlich-Rechtlichen. So wird gesagt, die Vorgesetzten sollten »Coaches statt Chefs« sein und auf Kontrollen möglichst verzichten,[6] und es wird »Ergebnisorientierung« gefordert – was für eine Kommunikationsfabrik, die nicht durch Profite, sondern durch die Qualität ihres Angebots überzeugen soll, zumindest missverständlich ist. Eine gute Führungskraft soll nach der Managementlehre übrigens »selbst produktiv und fleißig« sein – sicher ein wichtiger Maßstab, obwohl der Klima-Kommission von manchen erklärt wurde, einige Führungskräfte des NDR arbeiteten selbst zu viel journalistisch am Programm mit. Die Forderung, bei der Führungsauswahl weniger auf journalistische Qualifikation als auf andere Fähigkeiten zu achten, ist daher fragwürdig. Journalisten haben sich in der Vergangenheit als hervorragende Intendanten bewährt; einige waren nicht nur oberste Organisatoren ihrer Sender, sondern auch Vorbilder an journalistischer Exzellenz und damit Werbeträger ihrer Anstalten. Umgekehrt hätte ein »reiner Bürokrat« bei der journalistisch geprägten Mitarbeiterschaft einer Rundfunkanstalt vermutlich ein schlechtes Image.
Der Reimers-Bericht bestätigt die Tatsache, dass Führung stets einer Vielzahl z.T. widersprüchlicher Erwartungen ausgesetzt ist. Sie muss nicht nur die formalen Pflichten von Vorgesetzten erfüllen, sondern auch unausgesprochene, nicht formalisierbare Erwartungen der Mitarbeiterschaft berücksichtigen.[7] Die Ausübung rechtlicher Befugnisse erscheint in dieser Betrachtungsweise geradezu nachrangig (Luhmann 1964/1999: 215, Anm. 25). Die Festigung einer Einflussposition erfordert unter bestimmten Bedingungen »erhebliches Geschick, eine komplexe Moral und vor allem die Fähigkeit zu differenziertem, ja sogar widerspruchsvollem Verhalten« (Luhmann 1964/1999: 213f.).
Führungskräfte und Geführte nicht »auf gleicher Augenhöhe«?
Der Klimabericht enthält – entsprechend dem Auftrag der Kommission – kaum kritische Bemerkungen zum Verhalten oder der Einstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, abgesehen von einigen Bemerkungen, in denen die eigene Gruppe und eventuell auch der einzelne Interviewpartner oder die einzelne Interviewpartnerin allein mehr oder weniger selbstkritisch gemeint sind. Diese Einseitigkeit der Kritik entspricht der Alltagserfahrung, dass Vorgesetzte regelmäßig als »unfähig«, »autoritär« oder »dumm« bezeichnet werden, eben weil sie Vorgesetzte sind. Die gleiche abschätzige Haltung Vorgesetzter gegenüber »Untergebenen« ist zum Glück weitgehend aus der Mode gekommen.
Nach aller Einzelkritik an den Kommunikations- und Entscheidungsprozessen im Sender entsteht der Eindruck, dass die Mitarbeiterschaft zu einem Teil nicht dasjenige Maß an Selbstbewusstsein, eigener Initiative und Grundsatztreue entwickelt, das eine wesentliche Voraussetzung der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung »auf gleicher Augenhöhe« bildet. Wie sonst wäre es erklärlich, dass schon die Sitzordnung bei einer Intendantenbefragung als bedrückend empfunden wird? Wie kommt es, dass festangestellte, fachlich angesehene Redakteurinnen und Redakteure Anordnungen der Vorgesetzten, die ihnen falsch erscheinen, widerspruchslos hinnehmen, ja dass sie sich als Angehörige des mittleren Managements »alleingelassen« fühlen, statt die ihnen eingeräumte Gestaltungsfreiheit zu nutzen? (S. 11). Und vor allem: Warum entwickeln Journalistinnen und Journalisten, die sich zutrauen, externe Experten und vor allem Politiker in ihren Programmbeiträgen entschieden zu kritisieren, nicht die gleiche Kreativität bei der internen Auseinandersetzung um die angemessene Binnenkultur und die Strategie für die Zukunft? Wenn die höhere Führungsebene tatsächlich »häufig unsicher« agiert, »wenig entscheidungsfreudig« ist, wenn sie »laviert und taktiert«, könnte doch reichlich Spielraum für selbstbewusste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorhanden sein, und niemand müsste erklären, er oder sie übernehme »die Verantwortung für die Unzuverlässigkeit [m]eines Chefs« (so aber Äußerungen, die auf S. 11 referiert werden).
Selbstverständlich muss es die Führung eines Senders trotzdem ernst nehmen, wenn Mitarbeitende die interne Kommunikation als unangemessen empfinden. Vorschläge zur Beseitigung der Mängel sollten möglichst beachtet werden. So wünschen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedene Initiativen der Führungsebene, zum Beispiel »produktive Kritik in Konferenzen« (S. 66) und »strukturierte Rückmeldungen«. Derartige Veränderungen der Kommunikationspraxis können Missstimmung in der Mitarbeiterschaft für eine Zeitlang abbauen und ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen entstehen lassen. Ein freundliches, kooperatives Arbeitsklima ist auch eine gute Voraussetzung für gelungene Produkte.
Um aber einen qualitativ hochwertigen Output zu gewährleisten, müssen andere Faktoren hinzukommen. Die Führung der Organisation kann nicht alle diese Faktoren beherrschen, sondern manche nur zur Kenntnis nehmen und sich darauf einstellen. So ist die arbeitsrechtliche Praxis gegenüber den »Freien« (nicht nur, aber auch) durch die finanziellen Rahmenbedingungen geprägt, die ihrerseits u. a. von der Entwicklung der Einnahmen und damit von politischen Entscheidungen abhängen, bei denen die Rundfunkanstalten Betroffene und nicht Akteure sind. Aber auch die psychosozialen Voraussetzungen erfolgreicher Führung – die Emotionen der »Geführten« – sind nicht beherrschbar (so auch Ridder/Schirmer 2011: 213).
Das Misstrauen gegenüber der Führung sitzt bei manchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern tief, und selbst wenn es vorübergehend nachlässt, ist nicht gewährleistet, dass die Stimmung nicht bei aktuellen Anlässen (z. B. dem Verdacht von Korruption) sogleich wieder kippt. Es genügt bisweilen schon die laute Kritik einiger weniger Insider, um die vertrauensbildenden Maßnahmen zu entwerten. Das Binnenklima einer Organisation kann überdies auch von der öffentlichen Meinung negativ beeinflusst werden, die ihrerseits nicht berechenbar und niemandem verantwortlich ist. Die Führung kann nur versuchen, bestimmte Elemente der Kritik durch energische Maßnahmen (im Beispiel: der Abwehr oder Sanktionierung von Korruption) auszuräumen.
Die »weichen« Faktoren des Binnenklimas stammen aus vielen Quellen, in erster Linie aus dem unlenkbaren Strom der öffentlichen Meinung, letztlich des Zeitgeistes. Journalistinnen und Journalisten sind in besonders hohem Maße darin geübt, solche Strömungen des allgemeinen Bewusstseins – wie sie sich etwa in den Untiefen der elektronischen Netzwerke bilden – in ihrer Arbeit aufzugreifen und neu akzentuierte Werte auch ihrem eigenen Verhalten zugrunde zu legen. Sie sind überdies täglich mit der Polarisierung der Gesellschaft konfrontiert, die aus der Übermoralisierung und Aggressivität aktivistischer Gruppen resultiert, und tun sich oft schwer, in ihrer journalistischen Arbeit mit grundlegenden gesellschaftlichen Konflikten fertig zu werden (entsprechende Einsichten in Äußerungen von NDR-Mitarbeitern: vgl. Reimers et al.: 31f.). Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen andererseits durch Prominenz und öffentliche Anerkennung in die Versuchung, sich mental über die Kolleginnen und Kollegen und auch über die Vorgesetzten zu erheben und auf interne Zusammenarbeit weniger Wert zu legen. Dass solche Bewusstseinsprobleme auch auf die Produktionen durchschlagen, liegt auf der Hand.
Die scharfen sozialen und politischen Gegensätze, die die Medienproduzenten zu verarbeiten haben, erschweren die interne Kommunikation und Entscheidungsfindung (so auch die Reimers-Kommission: S. 31f.). Es reicht deshalb nicht aus, wenn die Führung mit der Mitarbeiterschaft nicht-autoritär kommuniziert, wenn sie Interesse und Zuwendung zeigt, kollegiale Entscheidungen möglichst frühzeitig und deutlich mitteilt usw. Klare Entscheidungen über die Zukunft des Rundfunks kann die Führung nur verkünden, wenn sie die Rahmenbedingungen einigermaßen richtig einschätzen kann; dies ist aus vielerlei (externen) Gründen gegenwärtig nur begrenzt möglich. Die Intendanzen wissen ebenso wenig wie Redakteurinnen oder Redakteure, ob die Rundfunklandschaft in naher Zukunft insgesamt neu geordnet werden und welche Bedeutung die eigene Anstalt künftig haben wird, und wenn sie die »crossmediale« Verknüpfung der verschiedenen Kanäle und Formate planen, sind sie weitgehend auf Versuch und Irrtum angewiesen. Was aber geschieht, wenn ein Intendant entgegen dieser Einsicht die Zukunft des Rundfunksystems prognostizieren will und weitreichende Organisations- und Programmreformen propagiert, hat man am Fall Buhrow gesehen – seine Wortmeldung wurde von Politik und Presse zerredet, bevor er sie konkretisiert hatte.
Das Konkurrenzverhältnis zu den privatwirtschaftlichen Medien …
Um die am Anfang gestellte Frage wieder aufzugreifen: In einer kritischen Situation ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Tat, aber nicht weil manche Beobachter das Angebot als zu umfangreich, zu schlecht oder zu stark diversifiziert empfinden und auch nicht weil es in den Chefetagen skandalöse Raffgier gegeben hat. Die radikale Kritik und die »revolutionären« Vorschläge zur Verkleinerung von Programmangebot und Personal der Rundfunkanstalten sind im Grunde eine Reaktion auf deren langjährigen Erfolg. Als in den 1980er-Jahren des 20. Jahrhunderts der privatwirtschaftliche Rundfunk zugelassen wurde und die Presseverleger in dieser Branche große Investitionen tätigten, haben viele erwartet, die öffentlich-rechtlichen Sender würden im Wettbewerb bald scheitern, also vom Markt verdrängt werden und nur noch in Nischen tätig bleiben. Das ist nicht eingetreten; das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem ist nach wie vor bei einem großen Teil des Publikums unangefochten beliebt und leistet Bedeutendes. Verschlechtert hat sich aber die Lage der Presse, die durch die beschleunigte Wendung von der Printproduktion zu digitalen Angeboten erneut in eine scharfe Konkurrenz um die Werbeeinnahmen geraten ist; viele Verlage möchten ihr Angebot offensichtlich am liebsten ganz auf den digitalen Markt verlegen. In der Auseinandersetzung mit den Öffentlich-Rechtlichen tauchen daher die altbekannten Argumente der Privatwirtschaft wieder auf; wie in vergangenen Zeiten spricht man von übermäßiger Größe, Geschmacksdiktatur oder Verschwendung der Rundfunkanstalten und von Einseitigkeit, »Linkslastigkeit« oder Überheblichkeit ihrer Mitarbeiter.[8] In solchen Wertungen steckt nicht nur ein erhebliches Maß an pauschaler Empörung, sondern auch ein gut Teil verschleierte Wahrnehmung eigener Interessen.
Seit die jüngere Generation ihren Nachrichtenbedarf überwiegend auf digitalen Geräten – unabhängig von dem »linearen« Angebot des Rundfunks – befriedigt, sind auch viele nervös geworden, die als Verantwortliche – wie Tom Buhrow – oder Mitarbeitende der Anstalten von der neuen Welle der Kritik selbst betroffen sind oder diese mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen. Die Empfehlung eines Bürgers, der den öffentlich-rechtlichen Rundfunk schätzt, kann nur lauten, die berechtigten Teile der Kritik sehr ernst zu nehmen und die Monita, die von außen wie von innen geäußert werden, so weit wie möglich auszuräumen.
… und die verfassungsrechtliche Mission des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
So wichtig es auch ist, das Binnenklima und die rechtliche und soziale Lage der »Rundfunkschaffenden« zu verbessern – das Schicksal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hängt in noch höherem Maße davon ab, wie der tatsächliche Output, das gesendete Programm vom Publikum, von den anderen Medien und von der Politik akzeptiert wird. Wertschätzung lässt sich nicht anordnen und nicht herbeireden, sondern muss durch Leistungen erworben werden. Doch die Qualität der Leistungen ist schon deshalb heftig umstritten, weil die Maßstäbe umstritten sind. Ein großer Teil des Fernsehpublikums zieht das Programm der privaten Sender vor, weil es insgesamt unterhaltsamer ist, keine hohen Ansprüche an die Rezipienten stellt und leichter konsumierbar ist. Die privaten Sender richten sich am Publikumsgeschmack aus, so wie er im Markt zum Ausdruck kommt;[9] die »Einschaltquote« spielt eine wesentliche Rolle. Wer mit den privaten Rundfunkanbietern zufrieden ist, zahlt überdies ungern die Rundfunkbeiträge. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann um seiner generellen Akzeptanz willen nicht ignorieren, dass der Publikumsgeschmack sich von den Qualitätsvorstellungen von Redaktionen und Autoren teilweise erheblich unterscheidet, muss also auch Konzessionen machen. Ob er seine Mission angemessen erfüllt und wie hoch die journalistische Qualität des Programms ist, lässt sich jedoch nicht an der erreichten Quote abmessen.
Der »Funktionsauftrag« des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist bekannt, und er wird im Großen und Ganzen hervorragend erfüllt. So »veranstaltet und verbreitet« der NDR »Rundfunk als Medium und Faktor des Prozesses freier, individueller und öffentlicher Meinungsbildung und als Sache der Allgemeinheit«.[10] »Er hat den Rundfunkteilnehmern und Rundfunkteilnehmerinnen einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und länderbezogene Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Seine Angebote haben der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten und ist berechtigt, sich an Filmförderungen zu beteiligen. Er kann auch Spartenprogramme veranstalten«.[11]
Die aktuelle Ausgestaltung dieses Auftrags ist nicht verfassungsrechtlich gewährleistet; nicht alle Kanäle und Portale, die der NDR eingerichtet hat, sind sakrosankt. Es ist also nicht auszuschließen, dass den Rundfunkanstalten Streichungen und Kürzungen aufgenötigt werden, etwa die teilweise Zusammenlegung der Dritten Programme. Es wird darauf ankommen, politische Bündnispartner gegen zu radikale Pläne zu gewinnen, die gegenwärtig in der Diskussion sind. Und es wird immer wichtiger werden, ein Höchstmaß an Qualität des Programms zu sichern.
Entscheidend ist die Qualität der Programme
Nötig ist ein hohes Maß an Disziplin und Ernsthaftigkeit bei der Gestaltung des Programms. Ein allein auf Unterhaltung eines Massenpublikums ausgerichtetes Angebot reicht dafür nicht aus. Um der Attraktivität des Gesamtprogramms willen haben auch Kriminalfilme und Sportübertragungen ihren legitimen Platz im Programm der Öffentlich-Rechtlichen, aber prägend ist idealerweise die fundierte, strukturierte Berichterstattung über alle die Öffentlichkeit interessierenden Geschehnisse, Entwicklungen und Lebensverhältnisse. Der Rundfunk soll umfassend inhaltlich berichten und die Informationen erklären, gewichten, in größere Zusammenhänge einordnen und kommentieren. »Das Bedürfnis nach Orientierung und Zusammenhangswissen wächst […]. Wenn zunehmend unsicher ist, auf welcher Grundlage wir miteinander reden sollen, dann braucht es weniger Meinung und mehr Recherche […]. Es braucht Investitionen in vertiefende Hintergrundberichterstattung und in gute Erklärformate« (Brosda 2022).[12]
Was wir heute »öffentliche Meinung« nennen, ist ein Konglomerat aus richtigen und falschen Beobachtungen, Einschätzungen und Umfragen, teils wildwüchsig aus den Tiefen der »Volksseele« entstanden, teils zielgerichtet und interessenbezogen organisiert, oft widersprüchlich, selten differenziert genug, um genaue Orientierung zu vermitteln (Bull 2023, insbes.: 136ff.). In dieser Situation besteht der wichtigste sozialethische und rechtliche Appell an die Medien darin, dass sie der Wahrheit verpflichtet sind. Die Bemühung um Wahrhaftigkeit ist oberste Berufspflicht aller Journalisten. Das gilt für die Berichterstattung ebenso wie für die Kommentierung – aus Respekt vor den Menschen, über die geschrieben wird (Bull 2021: 120). Die zunehmend intensivierte Verdachtsberichterstattung ist schon im Ansatz heikel, weil sie notwendigerweise unbewiesene Behauptungen verarbeitet, gleichwohl aber »immer etwas hängenbleibt«. Zur richtig verstandenen Wahrheit der Berichterstattung gehören die Berücksichtigung der »anderen Seite« – »audiatur et altera pars« – und das Bemühen um Vollständigkeit und ausreichende Differenzierungen, jedenfalls nicht die Reduktion von Berichten auf Schlagzeilen, wie die Boulevard-Zeitungen sie zur Aufmerksamkeitsgewinnung praktizieren. (Aus dem Bereich der Politik ist das schlechte historische Beispiel die Bismarck’sche Stimmungsmache durch Zuspitzung eines diplomatischen Textes mit der gewollten Folge des Kriegsausbruchs: »Emser Depesche«.)
Dass auch Sachlichkeit und parteipolitische Neutralität den Stil der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung prägen sollen, ist unumstritten. Das Neutralitätsgebot wird aber falsch verstanden, wenn es mit der ebenfalls gebotenen Staatsferne gleichgesetzt wird, insbesondere wenn damit gemeint sein sollte, Organe des Staates oder führende Politiker dürften in der Berichterstattung nicht in gleichem Maße wie andere Teilnehmer an den öffentlichen Diskursen berücksichtigt werden. Zwar hat sich selbst das BVerfG dieser Sichtweise genähert, indem es Äußerungen eines Bundespräsidenten, einer Bundeskanzlerin und mehrerer Bundesminister als verfassungswidrig oder »beinahe« verfassungswidrig beurteilt hat.[13] Würde in der Berichterstattung über politische Streitfragen und Meinungskontroversen ausschließlich oder überwiegend über die »staatsfernen« Angreifer gesprochen, so wäre der Rundfunk nicht das gewollte Medium und erst recht nicht ein Faktor der öffentlichen Meinungsbildung.
Wie leicht oder wie schwer es Programmverantwortlichen fällt, die Grundsätze der Sachlichkeit und Neutralität, der Staatsferne und der Vielfalt gegen alle möglichen Widerstände einzuhalten, ist von außen schwer einzuschätzen. Dem Einfluss der Parteipolitik haben sich viele entgegengestellt, und letztlich hat das BVerfG geholfen, diesen Einfluss bei der Auswahl des Spitzenpersonals zu verringern.[14] Friedrich Nowottny, seinerzeit Intendant des WDR, hat dazu angemerkt: »Die eigentliche Gefahr des öffentlich-rechtlichen Organisationsmodells besteht in seiner Anfälligkeit für Gruppenegoismen. Der Binnenpluralismus der Aufsichtsgremien bildet eine ständige Herausforderung für Intendanten, Programmdirektoren und Journalisten, die bemüht sind, sich gegenüber Einflussnahmen antagonistischer gesellschaftlicher Kräfte zu behaupten« (Nowottny 1992: 101). Die geforderte Qualität des Angebots kann aber auch durch interne Defizite oder Gegenkräfte gefährdet sein, vor allem durch zu geringe Qualifikation einzelner Autoren oder Redakteure und durch »missionarischen Eifer«, »durch bewusstes Moralisieren«, »durch das Erheben des Zeigefingers«, um deutlich zu machen, »wes Geistes Kind der Zuschauer, der Zuhörer sein sollte« (Nowottny 1992: 110).[15] Diese Beobachtung eines Insiders aus dem Jahre 1992 scheint heute wieder besonders aktuell zu sein.
Die »dienende Freiheit« der Journalistinnen und Journalisten
Die Journalistinnen und Journalisten, die die institutionelle Freiheit des Rundfunks nutzen, sind zwar selbst Träger individueller Meinungs- und Berichterstattungsfreiheit, aber als Mitarbeitende einer Rundfunkanstalt bei der Wahrnehmung dieser Rechte auf die Programmgrundsätze verpflichtet. Die verbindliche Auslegung dieser Grundsätze ist letztlich Aufgabe des nach außen verantwortlichen Intendanten; deshalb hat dieser theoretisch ein entsprechendes Weisungsrecht (das aber praktisch durch andere, weniger förmliche Mittel der Einflussnahme ersetzt wird).
Die Rundfunkfreiheit ist »primär eine der Freiheit der Meinungsbildung in ihren subjektiv- und objektivrechtlichen Elementen dienende Freiheit«.[16] Der Verlust an individueller Selbstverwirklichung wird kompensiert durch die Mitwirkung an dem gemeinsamen Produkt. So hat der nordrhein-westfälische Gesetzgeber die besondere Rechtsstellung der Rundfunkredakteure – zwischen der grundrechtlichen Freiheit und der Einbindung in die veranstaltende Organisation – wie folgt umschrieben (und zwar für alle Rundfunkveranstalter, also auch die privaten):
»Die redaktionell Beschäftigten haben die ihnen übertragenen Programmaufgaben im Rahmen der Gesamtverantwortung des Veranstalters in eigener journalistischer Verantwortung unter Beachtung der Programmgrundsätze […] zu erfüllen. Unberührt bleiben vertragliche Vereinbarungen und Weisungsrechte des Veranstalters«.[17]
Das BVerfG hat es zuvor ausdrücklich für zulässig erklärt, den Programmmitarbeitern ein solches Beteiligungsrecht einzuräumen.[18] Damit werde »innerhalb des arbeitsteiligen Unternehmens Rundfunk diejenige Berufsgruppe gestärkt, die den Auftrag des Rundfunks, Medium und Faktor der Meinungsbildung zu sein, unmittelbar erfüllt«. Deswegen handle es sich »bei der Redakteursbeteiligung nicht um die Einräumung externen Einflusses, sondern um interne Mitsprache bei der Wahrnehmung der von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Funktion. Als solche wird sie den Redakteuren nicht im Interesse ihrer Selbstverwirklichung im Beruf und zur Durchsetzung ihrer subjektiven Auffassung eingeräumt, sondern zur Erfüllung ihrer Vermittlungsfunktion«.[19]
Über die Redakteursbeteiligung beim NDR ist – wie auch über die Rolle der Personalvertretung – in dem Klimabericht nichts gesagt. Hier scheint Klärungsbedarf zu bestehen.
Staatsfreiheit und Staatsabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Auch die staatliche Aufsicht über den NDR wird in dem Bericht über das Klima im NDR nicht erwähnt. Sie liegt – auf die Rechtsaufsicht beschränkt – bei den Landesregierungen, die den NDR konstituiert haben, scheint aber kaum eine Rolle zu spielen. Programmaufsicht ist den Landesregierungen, die die Rechtsaufsicht auszuüben haben, ganz untersagt; dafür sind die internen Organe Intendant und Rundfunkrat zuständig (§ 39 NDR-StV).
Der Staat ist gleichwohl in der Pflicht, für die Erhaltung, angemessene Ausstattung und korrekte Programmgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einzustehen. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass der Staat den Bestand und die Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gewährleisten muss.[20] Umgekehrt könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk ohne die Anbindung an den demokratischen Staat und die damit verbundene Abhängigkeit von seiner Gesetzgebungsmacht nicht als solcher existieren und keine Pflichtbeiträge erheben. Die Abhängigkeit der Anstalten von staatlichen Rahmenregelungen ist der Preis der inhaltlichen Rundfunkfreiheit, die durch staatliches Recht gerade gegen den Staat gesichert ist. Der Rahmen selbst kann nur im politischen Streit festgelegt werden.
Ein Alternativmodell, das den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch finanziell staatsunabhängig machen würde, ist bisher nirgends erörtert worden. Man könnte an die Einrichtung eines von der Bevölkerung gewählten Rundfunkparlaments denken, das an Stelle der Rundfunkräte treten würde. Tom Buhrow hat offenbar an eine solche Lösung gedacht, als er »eine Art verfassunggebende Versammlung für unseren neuen, gemeinnützigen Rundfunk« ins Gespräch brachte (zitiert nach Büscher/Debes 2022). Ein »Parlament« wäre aber über die Rundfunk-»Verfassunggebung« hinaus auch für die weitere Normierung und Aufsicht erforderlich. Eine solche spezielle Volksvertretung könnte zwar eine stärkere demokratische Legitimation als die bestehenden Rundfunkorgane vermitteln, aber eine solidere Basis für die künftige Ausstattung und Organisation des Rundfunks könnte sie nicht gewährleisten. Übrigens könnte niemand die politischen Parteien hindern, auch in solchen neuen Vertretungskörperschaften entscheidend mitzuwirken.
Das Gleichnis vom altgewordenen Gewächshaus
In dem »Klimabericht«, den der NDR hat herstellen lassen, ist die Entwicklung des Senders am Schluss in einem Gleichnis dargestellt (S. 93-95). Der Verfasser des Berichts, Uli Cyriax, vergleicht den NDR mit einem städtischen Gewächshaus, das sich im Laufe der Zeit verändert hat: die Gärtner wurden nachlässiger, es entstanden dichte, struppige Gewächshauswälder, der Efeu umrankte die alten Bäume und erstickte exotische Blumen. Andere, kleinere Gewächshäuser machten manche Besucher abspenstig, und bald forderten viele, das ganze Haus abzureißen oder es zumindest radikal zurückzubauen. Dann tauchte ein neuer Obergärtner auf, der den Zustand des Gewächshauses von einem Experten untersuchen ließ. Dessen Bericht war »ernüchternd und hart«. »Es gab Fragen über Fragen und mit ihnen keimte die Hoffnung. Die Antworten sind offen. Noch.«
Hoffentlich bleiben sie nicht allzu lange aus.[21]
Über den Autor
Hans Peter Bull (*1936), Dr. iur., war von 1973 bis 2002 Professor für Öffentliches Recht und von 1996 bis 2005 auch Direktor des Seminars für Verwaltungslehre an der Universität Hamburg. Von dem Hochschullehreramt zeitweise beurlaubt, war er von 1978 bis 1983 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und von 1988 bis 1995 Innenminister des Landes Schleswig-Holstein. Mit medienrechtlichen und -politischen Themen hat er sich in verschiedenen Zusammenhängen befasst.
Literatur
Brosda, Carsten (2022): Was wir wollen. In: Süddeutsche Zeitung vom 10.11.2022, S. 27.
Bull, Hans Peter (2020): Die Krise der Medien und das Dilemma der Medienkritik. In: Recht und Politik 2020, 441ff.; auch in: ders.: Demokratie und Rechtsstaat in der Diskussion, 2023, S. 179ff.
Bull, Hans Peter (2021): Wie wahr ist mediale Berichterstattung? Über Unsitten und Unwissenheit in der öffentlichen Kommunikation. In: Journalistik 2/2021, S. 119-137.
Bull, Hans Peter (2023): Öffentlichkeit und öffentliche Meinung heute. Zur Volks- und Staatswillensbildung in der pluralistischen Demokratie. In: ders.: Demokratie und Rechtsstaat in der Diskussion. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 101-177.
Büscher, Gudrun; Debes, Martin (2022): Braucht Deutschland ARD und ZDF? In: Hamburger Abendblatt vom 4.11.2022, S. 24.
Di Lorenzo, Giovanni (2022): Wir brauchen jetzt Mut. In: Der Tagesspiegel vom 12.11.2022, S. 21.
Fischer, Stefan (2023): Joachim Knuth: NDR-Intendant, dem die Belegschaft die Meinung sagt. In: Süddeutsche Zeitung vom 5.4.2023, S. 4.
Grabenwarter, Christoph (2018): Art. 5 Abs. 1, 2 GG. In: Dürig, Günter; Herzog, Roman; Scholz, Rupert (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. 85. Lieferung. München: C. H. Beck.
Haider, Lars (2022): Revolution statt Reform. ARD und ZDF müssen radikal umbauen, damit sie noch eine Zukunft haben. In: Hamburger Abendblatt vom 4.11.2022, S. 2.
Hulverscheidt, Claus; Tieschky, Claudia (2022): »Eine vertane Chance«. Wie Politik und Intendanten auf Tom Buhrows plötzliche Reformpläne reagieren. In: Süddeutsche Zeitung vom 4.11.2022, S. 18.
Keim, Walther (1992): »Bericht aus Bonn« – Anmerkungen zum Erscheinungsbild und zur Produktionsrealität eines Nachrichtenmagazins. In: Wittkämper, Gerhard W. (Hrsg.): Medien und Politik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 120-130.
Luhmann, Niklas (1964/1999): Funktionen und Folgen formaler Organisation. 1./5., unveränderte Auflage. Berlin: Duncker & Humblot.
Meinel, Florian (2023): Neutrale Politik. In: Merkur 887 (April).
Mischke, Joachim (2022): Dr. Buhrow und Mr. Tom. In: Hamburger Abendblatt vom 11.11.2022, S. 15.
Nowottny, Friedrich (1992): Politik und öffentlich-rechtlicher Rundfunk – Die Sicht des Intendanten. In: Wittkämper, Gerhard W. (Hrsg.), Medien und Politik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 99-111.
Reimers, Stephan; Cyriax, Hans-Ulrich; Brauck, Melanie; Mielke, Phelina; Prox, Henning; Rissler, Dagmar (2023): Klimabericht. Analyse von Unternehmenskultur und Betriebsklima im Norddeutschen Rundfunk. März 2023. Hamburg: Norddeutscher Rundfunk, Unternehmenskommunikation.
Ridder, Hans-Gerd; Schirmer, Frank: Führung. In: Blanke, Bernhard; Nullmeier, Frank; Reichard, Christoph; Wewer, Göttrik (Hrsg.) (2011): Handbuch zur Verwaltungsreform. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 206-217.
Schridde, Henning (2011): Change Management. In: Blanke, Bernhard; Nullmeiner, Frank; Reichard, Christoph; Wewer, Göttrik (Hrsg.): Handbuch zur Verwaltungsreform. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 279-291.
Tieschky, Claudia (2023): Vorsätzlich beschädigt. In: Süddeutsche Zeitung vom 29./30.4.2023, S. 44.
Winkler, Willi (2022): Wer ist diese Person? In: Süddeutsche Zeitung vom 4.11.2022, S. 18.
Fußnoten
1 Ein Beispiel: Kommentar von Lars Haider (Chefredakteur des Hamburger Abendblatts) (Haider 2022) zu Äußerungen des WDR-Intendanten und ARD-Vorsitzenden (»als Privatperson«) Tom Buhrow. Scharf kritisch zu Buhrow u. a. Winkler 2022 und Mischke 2022; s.a. Hulverscheidt/Tieschky 2022; Di Lorenzo 2022 sowie Brosda 2022.
2 Über die Vorwürfe gegen Patricia Schlesinger (rbb) (u. a. Untreue und Vorteilsnahme) und Sabine Rossbach (NDR) (»Vetternwirtschaft«) informieren die Wikipedia-Artikel unter diesen Namen (letzter Aufruf jeweils am 3.7.2023) sowie über weitere »Affären« (Bestechlichkeit, falsche Dokumentation u. a.) der Artikel »Norddeutscher Rundfunk«. In dem letztgenannten Wikipedia-Beitrag (letzter Aufruf 3.7.2023) wird mitgeteilt, dass es für einen »politischen Filter« im Landesfunkhaus Kiel keine Belege gegeben habe.
3 Pressemitteilung des NDR v. 29.9.2022, abgedruckt in: Reimers/Cyriax/Brauck/Mielke/Prox/Rissler 2023: 99. Den Bericht verfasst hat im Wesentlichen Hans-Ulrich Cyriax (vgl. S. 4/5). Soweit im folgenden Text Seitenzahlen angegeben sind, beziehen sie sich auf diesen »Klimabericht«.
4 In der Organisationstheorie von Niklas Luhmann zählt die Übertragung des Bildes von »oben« und »unten« auf menschliche Beziehungen zu den »geistigen Großtaten der Menschheit«, den »glanzvollsten Erfindungen der Kultur«; sie scheine die Grundbedingung jeder »höheren« Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu sein (Luhmann 1964/1999 S. 162 Anm. 14 m.w.N.). Luhmann behandelt freilich in diesem Zusammenhang nicht die ebenso relevante Auflehnung der »Unteren« gegen die so geordnete Herrschaft.
5 Zur theoretischen Grundlegung von Führungskultur, Führungsstil usw. vgl. Ridder/Schirmer 2011: 206-217).
6 So beispielsweise zu lesen unter: ABC-Personal-Strategie, Die 10 Merkmale einer guten Führungskultur, www.abc-personal-strategie.de (Abruf 20.4.2023). Dort auch weitere Stichworte wie: »flache Hierarchie und Diskussion statt Ansagen von oben«, »Engagement für das Team«, »ehrliche, zeitnahe und offene« Kommunikation sowie »Feedback für Führungskräfte«.
7 Zum formalen Statussystem vgl. schon Luhmann 1964/1999: 156ff. (162ff.) sowie zur Rolle der Führer und Vorgesetzten S. 206ff. (212ff.). Luhmanns Position mag heute als zu konservativ erscheinen; seine Beschreibung des Führungsdilemmas ist aber alles andere als weltfremd.
8 Im Bericht der Klima-Kommission wird die externe Kritik mit der Kurzform »zu teuer, staatsnah und unkontrollierbar« zitiert (S. 30). In einem aktuellen Kommentar zum Streit um die Höhe des Rundfunkbeitrags behauptet eine Zeitungsredakteurin, es gebe »Chefs, denen zum Beispiel im NDR externe Gutachter offiziell große Unfähigkeit attestierten« (Tieschky 2023: 44). Welche externen Gutachter das sein sollen, wird nicht erwähnt. Möglicherweise ist der hier besprochene Klimabericht gemeint, der die (in sich kontroversen) Meinungen und Stimmungen der NDR-Mitarbeiterschaft wiedergibt. Die Kommission hat aber nicht geprüft, ob diese Äußerungen begründet sind; das war nicht ihr Auftrag.
9 So z. B. auch BVerfGE 119, 181 (217 f. m.w.N.); 149, 222 (260 Rn. 7f.); 158, 389 (417 Rn. 78).
10 § 4 Satz 1 NDR-StV in Anlehnung an BVerfGE 12, 205 (260). Vgl. a. BVerfGE 57, 295 (320); 83, 238 (321); 119, 181 (218) sowie 158, 389 (416 Rn. 75ff.).
11 Zur Ausgestaltung des »Funktionsauftrags« dienen eigene Richtlinien des NDR, § 5 Abs. 3 Satz 1 NDR-StV.
12 Eindringlich betont wird dieser Aspekt z. B. schon von Keim 1992: 129. S. a. meine medienkritischen Beiträge: Bull 2020 und 2023.
13 Vgl. die Entscheidungsserie BVerfGE 136,323 (Gauck); 138, 102 (Schwesig); 148, 11 (Wanka); 154, 320 (Seehofer), 162, 207 (Merkel); s.a. BVerwGE 159,327 (»Dügida«); zutreffend jedoch die Abweichende Meinung der Richterin Wallrabenstein in BVerfGE 162, 271 mit der Beschränkung des Neutralitätsgebots auf die Verwaltung. Vgl. a. den entschiedenen Widerspruch von Meinel 2023.
14 BVerfGE 136, 9 (ZDF-Urteil).
15 Der damalige WDR-Intendant empfahl stattdessen, »schonungslos und, wo dies angebracht ist, mit ironischer Distanz Fakten offenzulegen, die für sich selbst sprechen, und den Menschen das Denken und Werten im übrigen selbst [zu] überlassen«.
16 BVerfGE 57, 295 (320 – Hervorhebung im Originaltext).
17 So geschehen durch § 32 Landesmediengesetz NRW v. 2.7.2002 (LMG) i.d.F.v. 1.6.2022. Der NDR-StV enthält keine entsprechende Vorschrift außer dem Verweis auf das Redaktionsstatut (§ 41).
18 BVerfGE 83, 238 (250, 321) zu § 13 Rundfunkgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (LRG) i.d.F.v. 11.1.1988. Das LRG ist später durch das LMG ersetzt worden. Im WDR-Gesetz (i.d.F.v. 25.4.1998) sind nunmehr eine Redakteurvertretung (»als Berufsgruppenvertretung«) und ein Schlichtungsausschuss vorgesehen (§ 30).
19 BVerfGE 83, 238 (321).
20 BVerfGE 74, 297 (374f., 350f.); 83, 238 (298); 90, 60 (91); 119, 181 (218); 136 , 9 (30); aus der Literatur: Grabenwarter 2015 Rn. 818 m.w.N. Verfassungsrechtlich geschützt ist die Existenz von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten an sich, nicht aber jede einzelne Rundfunkanstalt (BVerfGE 89, 144 [153]; Grabenwarter Rn. 820).
21 Eine erste Antwort hat inzwischen der Verwaltungsrat des NDR gegeben. Die Vorsitzende dieses Gremiums, Karola Schneider, hat nach einem Bericht der FAZ vom 6.5.2023 mitgeteilt, »man habe sich ausführlich mit dem ›Klimabericht‹ befasst. Der Verwaltungsrat empfehle, ›die angestoßenen Prozesse so aufzusetzen, dass Entlastungen und Veränderungen in der Unternehmenskultur bereits kurz- bis mittelfristig spürbar werden‹. Die abgeschaffte 15-Jahres-Grenze für freie Mitarbeiter sei ein Schritt in die richtige Richtung. Doch gelte es, das Thema ›durch den neu zu bildenden Kulturkreis, der sich mit den Vorschlägen des Reimers-Teams befassen sollte‹, breit aufzulegen. Der Personalentwicklung komme eine größere Bedeutung zu, insbesondere mit Blick auf Führungskräfte.« Die Zahl der Frauen in Führungspositionen im NDR habe im vergangenen Jahr leicht abgenommen, auf 46 Prozent; »hier sei Geschlechterparität anzustreben.« Um im Gleichnis zu bleiben: Man hofft also auf neue Kulturen – ohne diese genau bezeichnen zu können – und auf neue Obergärtnerinnen (obwohl auch deren Führungsstil in die Kritik geraten ist).
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Zitationsvorschlag
Hans Peter Bull: Die »Klimakrise« beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Kommunikationsprozesse, Führungskultur und ihre Bedeutung für den Output – Zur neuen Diskussion um die Rundfunkpolitik aus Anlass des NDR-»Klimaberichts«. In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, 3_4, 2023, 6. Jg., S. 286-308. DOI: 10.1453/2569-152X-3_42023-13608-de
ISSN
2569-152X
DOI
https://doi.org/10.1453/2569-152X-3_42023-13608-de
Erste Online-Veröffentlichung
Dezember 2023